Unbewusst Betroffen – Ein Kommentar zu Silent Fallout

Silent Fallout von Hideaki Ito ist ein eindrucksvoller und emotional bewegender Dokumentarfilm, der die Opfer der US-Atomwaffentests der 1950er- und 1960er-Jahre in den Blick nimmt. Schon der Titel verweist auf den „stillen Niederschlag“ – den radioaktiven Fallout, der nach Atomexplosionen entsteht und sich in Form kontaminierten Staubs über Umwelt und menschliche Körper legt. Der Film erzählt die lange vergessenen Geschichten jener US-Bürgerinnen und Bürger, die unbewusst zu Opfern der eigenen Regierung wurden, vermittelt durch Interviews mit Zeitzeugen, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern.

Fallout aus Nevada

Ab 1951 führte die US-Regierung zahlreiche Atomtests auf dem Festland durch, vor allem auf der Nevada National Security Site. Der dabei freigesetzte Fallout verteilte sich über weite Teile des Landes. Besonders betroffen waren die Menschen in den Städten Salt Lake City und St. George im Bundesstaat Utah. In den Interviews berichten Anwohner*innen von überdurchschnittlich hohen Krebsraten und Strahlenkrankheiten. Dass sie Opfer ihrer eigenen Regierung wurden, war ihnen lange nicht bewusst. Eine untätige Regierung ließ zu, dass die Bevölkerung über Jahre hinweg der Strahlenbelastung ausgesetzt blieb.

Nachweis durch Milchzähne

Ein zentrales Beispiel wissenschaftlich-bürgerlichen Engagements stellt das sogenannte Baby Tooth Survey dar. Initiiert von der Physikerin Louise Reiss und ihrem Ehemann, untersuchte das Projekt die Auswirkungen von Strontium-90, einem krebserregenden Isotop, das aus über 400 oberirdischen Atomtests vor 1963 stammt, auf Kinder. Aufgrund seiner chemischen Ähnlichkeit zu Kalzium lagerte sich das radioaktive Strontium über Wasser und Milchprodukte in Knochen und Zähnen an.

Reiss und ihr Team sammelten in Schulen von Missouri bis zu 320.000 Milchzähne, um die Strahlenbelastung zu messen. Kinder, die ihre Milchzähne spendeten, erhielten einen Aufkleber mit der Aufschrift „I gave my tooth to science“ – viele bewahren ihn bis heute auf. Die 1961 veröffentlichten Ergebnisse belegten einen deutlichen Anstieg der Strahlenwerte: Kinder, die 1963 geboren wurden, trugen im Durchschnitt eine 50-mal höhere Dosis Strontium-90 in sich als jene, die zehn Jahre zuvor geboren waren.

Zeitgleich formierte sich die Bürger*Innenbewegung Women Strike for Peace, deren rund 50.000 Teilnehmerinnen in 60 Städten ein Ende der Atomwaffentests forderten. Gemeinsam mit den Ergebnissen des Baby Tooth Survey trug dieser Protest maßgeblich dazu bei, dass Präsident John F. Kennedy 1963 den Partial Test Ban Treaty unterzeichnete – ein Abkommen, das oberirdische Atomtests verbot.

Eine absichtlich vergessene Perspektive

Silent Fallout richtet sich deutlich an die weiße Mehrheitsgesellschaft der USA und will aufzeigen, dass auch sie, unbewusst und unbeabsichtigt, Opfer der atomaren Aufrüstung wurde. Der Film porträtiert bewusst eine unschuldige, lokale Bevölkerung, die durch das Handeln der eigenen Regierung geschädigt wurde, und kämpft gegen die bis heute anhaltende Unwissenheit über diese Verbrechen an.

Doch um ein theoretisch vollständiges Bild der Opfer amerikanischer Atomtests zu zeichnen, würde eine entscheidende Perspektive fehlen: Das Land der Nevada Test Site ist das Territorium der Western Shoshone, eines indigenen Volkes, das bis heute in dieser Region lebt. Die Nutzung ihres Landes für Atomtests und die damit verbundenen radioaktiven Belastungen sind untrennbar mit kolonialen Machtstrukturen verbunden. Ohne diese Perspektive würde ein umfassendes Bild atomarer Betroffenheit in den USA unvollständig bleiben.

Ein eindringliches Zeugnis

Silent Fallout gelingt es, einen lange übersehenen Teil der Opfer der US-Atomtests sichtbar zu machen und die gesundheitlichen wie gesellschaftlichen Folgen eindrucksvoll darzustellen. Durch die Verbindung wissenschaftlicher Erkenntnisse mit persönlichen Erzählungen entsteht eine vielschichtige Dokumentation, die die Wirkung von Atomwaffen nicht nur gesamtgesellschaftlich, sondern auch auf der individuellen Ebene erfahrbar macht. Der Film zeigt, wie tief die atomare Bedrohung in den Alltag eingedrungen ist: unsichtbar, alltäglich, und doch zerstörerisch.