In Zusammenarbeit mit der kasachischen Jugendorganisation STOP (Steppe Organization for Peace: Qazaq Youth Initiative for Nuclear Justice) und der Friedrich Ebert Stiftung Kasachstan haben wir im Mai eine Bildungsreise in Kasachstan durchgeführt. Hier konnten wir Kasachstan, ein ehemaliges Atomwaffentestgebiet der Sowjetunion, und seine nukleare Geschichte kennenlernen und von Betroffenen, regionalen Expert*innen und Aktivist*innen lernen.
Gespräche mit Betroffenen
Maira Abenova, Überlebende der sowjetischen Atomtests in Semei (ehemals Semipalatinsk) und Gründerin der Organisation Polygon 21, kämpft für die Rechte der Betroffenen. Sie hat uns ermöglicht, mit Betroffenen in Astana und Semei zu sprechen, die wir in verschiedenen Kontexten treffen konnten. Viele der Überlebenden berichteten von ihren gesundheitlichen Problemen wie Krebs und Herzerkrankungen. Sie betonten, dass „auch wenn sie gesund aussehen, sie viele Krankheiten haben“, und dass die medizinische Versorgung teuer und die Entschädigungen unzureichend seien. Sie hoffen, dass ihre Stimmen international gehört werden, insbesondere von den Vereinten Nationen. Sie erklären auch: “Ihre Stimmen reichen noch nicht so weit wie die aus Hiroshima und Nagasaki.”
In einer anderen Gesprächsrunde mit Menschen, die nahe dem Testgelände aufgewachsen sind, erklärten zwei Personen: „Wir waren biologisches Material der Atomwaffentests für die Wissenschaft und Forschung.“ und „die Gesundheit der Menschen wurde wie ein Schutzschild benutzt – wir wurden mit ihrem Unglück allein gelassen”. Sie äußerten ihre Sorgen über die Auswirkungen auf zukünftige Generationen und das gesellschaftliche Stigma, mit dem sie zu kämpfen haben.
Bei einem Frühstück mit betroffenen Menschen der ersten Generation berichtete Dmitriy Veselov von den Schwierigkeiten im Alltag aufgrund der Strahlenschäden, dass er kaum eine Kaffeetasse halten könne. Maira betonte, dass die gesundheitlichen Folgen bei Frauen anders seien und viele Schwangere Angst um ihre Kinder haben. „Wir haben uns daran gewöhnt, all diese Explosionen zu sehen und zu spüren,“ sagte eine Person. Viele Überlebende fühlen sich jedoch resigniert, da internationale Besuche selten zu konkreten Ergebnissen führen.
Vor unserer Abreise sprachen Gulzhanat Rakhatkyzy, Shakerbanu Myrzakhanova und Tursynbek Bekberuly von Polygon 21 über ihre persönlichen Geschichten und die Zusammenarbeit der Generationen. Maira stellte die zukünftigen Pläne von Polygon 21 vor, die landwirtschaftliche Nutzung, internationale Forschung und die Entwicklung der Region als Handelspartner umfassen.
Gespräche mit Vertreter*innen aus der Politik
Wir hatten das Privileg, das Ministry of Foreign Affairs der Republik Kasachstan zu besuchen, wo uns Arman Baisuanov, Leiter der Abteilung für internationale Sicherheit, empfing. Er sprach über Kasachstans Geschichte mit über 450 Nukleartests und seine Rolle als Teil der atomwaffenfreien Zone in Zentralasien. Er betonte die bevorstehenden Schwerpunkte wie das dritte Treffen der Vertragsstaaten des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV), bei dem Kasachstan die Präsidentschaft übernimmt. Er erinnerte uns: „Today you are students, tomorrow you are policy-makers.“
Außerdem konnten wir in einem Online-Meeting mit Zhangeldy Syrymbet, einem Experten der Ständigen Vertretung Kasachstans bei den Vereinten Nationen, sprechen, der auf Kasachstans Rolle bezüglich des AVV einging und der die Dringlichkeit der nuklearen Abrüstung betonte.
In weiteren Gesprächen trafen wir Roman Podoprigora, einen Richter des kasachischen Verfassungsgerichts, der über empfohlene Änderungen zum Gesetz für die Betroffenen der Atomtests von 1992 sprach, und Nurlan Äuesbaev, ein Parlamentsabgeordneter, der erklärte, dass das „ehemalige Atomwaffentestgelände in Semei eines der größten Probleme des Landes darstellt.“ Er hofft auf Veränderungen durch die Zusammenarbeit mit Maira und Polygon 21.
In Semei trafen wir Mitglieder des Rates der Region Abay. Sie berichteten, dass die gesundheitlichen Folgen der Atomtests nach wie vor ein großes Problem sind. Ein weiteres Problem ist der fehlende Zugang zu Archiven in Moskau, was die Ansprüche auf Entschädigung erschwert. Anschließend besprachen wir mit der Verwaltung der Abay-Region das Gesetz von 1992 über den sozialen Schutz von Betroffenen, wobei die Betroffenen viele Mängel im Gesetz sehen.
Gespräche mit der Forschung
Bei unserem Besuch der Nazarbayev University (NU) gab uns Dr. Zhanibek Aryn Einblicke in Kasachstans Außenpolitik und Sicherheit. Am Nachmittag erkundeten wir mit der NU Green Society den Campus und den Umweltaktivismus.
An der Semey Medical University präsentierte Aigerim Mussabalínova ihre Forschung zur sozioökonomischen Entwicklung der Abay-Region. Im medizinischen Forschungsinstitut erklärte Alexandra Lipikhina, dass nach den Atomtests 1992 die Strahlenbelastung bewertet wurde, um Entschädigungen festzulegen. Die Forschung basiert auf wenigen verbliebenen Dokumenten, da viele Berichte zerstört oder nach Moskau gebracht wurden. Bisher wurden 373.686 Betroffene registriert, die Gesamtzahl wird auf 1,5 Millionen geschätzt. Dr. Sergazy Dyusembaev stand ebenfalls für Fragen zur Verfügung.
Außerdem besuchten wir die Alikhan Bokeikhan Universität, wo Rektor Alexandr Koichubayev von Forschungsprojekten mit deutschen Universitäten berichtete. Maira betonte die Wichtigkeit, aktiv zu werden und Änderungen von den Regierungen zu fordern. An der Shakarim Universität lernten wir über die Forschung zu den Atomwaffentests, vorgestellt von Prof. Sergey Dyusembaev, der sich mit landwirtschaftlicher und touristischer Nutzung der Region befasst.
Gespräche mit der Zivilgesellschaft
Noch in Astana tauschten wir uns mit Kassiyet Temirzakhyzy und Magzhan Tazhin von der Organisation Wings of Liberty über soziale Herausforderungen und Aktivismusprojekte in Kasachstan aus.
In Almaty widmeten wir uns der kasachischen Medienlandschaft und der Darstellung der Betroffenen. Pressefreiheit und russische Narrative in nationalen Medien wurden diskutiert, wobei das atomare Erbe Kasachstans und die Überlebenden der Atomtests kaum präsent sind. Die kasachische Regierung geht der Aufarbeitung der Tests nicht ausreichend nach, was verschiedene Gründe hat. Einen Grund dafür lieferte Dauren Aben in der Folgeveranstaltung: „You can’t escape geography.“ Kasachstan muss gute Beziehungen zu Russland und China pflegen.
Bei dieser Veranstaltung mit dem Titel „Steppe for Peace: Eintreten für nukleare Gerechtigkeit in Kasachstan“ wurde die Dokumentation „I want to live on: the untold stories of the Polygon“ gezeigt. Im ersten Panel diskutierten Aigerim Seitenova, Gulsum Kakimzhanova und Kaisha Atakhanova das nukleare Erbe Kasachstans aus feministischer Sicht. Im zweiten Panel sprachen Dr. Togzhan Kassenova, Dauren Aben und Alimzhan Akhmetov über Kasachstans nukleare Politik und die globalen Bestrebungen zur Abrüstung. Es wurde gefordert, mehr Überlebende aus Kasachstan in die Foren der Vereinten Nationen einzubringen, nach dem Vorbild Japans. Der Tag endete mit Gesprächen mit den Speakern, inspiriert von den Worten: „Je mehr wir junge Menschen bilden, desto größer ist die Hoffnung auf eine Welt ohne Atomwaffen.“
Wir sind unglaublich dankbar für die Gespräche und Begegnungen mit diesen unglaublich inspirierenden Menschen. Wir sind uns sicher: Diese Reise ist nur der Anfang für unser gemeinsames Einstehen für nukleare Gerechtigkeit. Deshalb arbeiten wir weiter an Folgeprojekten, also bleibt gespannt!
Ein großes Dankeschön geht im Namen von ICAN an unsere großzügigen Sponsor*innen, die diese Reise möglich gemacht haben! Allen voran geht Dank an die Stiftung West-Östliche Begegnung, die Stiftung Überlebensrecht und all diejenigen, die uns gespendet haben. Danke!
Für einen ausführlicheren Einblick, besucht gerne die Webseite mit den täglichen Blogeinträgen.