Als am 6. Oktober 2017 die Verleihung des Friedensnobelpreises an ICAN bekannt gegeben wurde, saß ich am Schreibtisch in meinem Büro in der Chausseestraße. Ich arbeitete damals als politischer Referent für eine medizinische Fachgesellschaft. Neugierig, aber nicht erwartungsvoll schaltete ich den Livestream des norwegischen Nobelkomitees ein. Es lag in der Luft, dass eine Abrüstungsinitiative geehrt werden würde. Ich tippte jedoch auf den Iran-Deal, der damals durch Trump bedroht war. Gegen eine Würdigung der Humanitären Initiative und des TPNW sprach auch, dass das Entscheidungsgremium vom norwegischen Parlament bestimmt wird, in dem seinerzeit die Konservativen die Mehrheit hatten. Und sie waren gegen die Ächtung von Nuklearwaffen.
Der eindrucksvolle Auftritt von Berit Reiss-Andersen, der Vorsitzenden des Komitees, und ihre Verkündung, dass uns der Nobelpreis verliehen würde, wirkte auf mich in diesem Moment unwirklich. Wie ein Automat verließ ich das Büro und brach, wie für den eingetroffenen Fall besprochen, zu der von Gregor Enste und Stephanie Mendes Candido vorbereiteten Pressekonferenz in der Heinrich-Böll-Stiftung auf. Die Vorausplanung eines solchen Events mit allem Tam-Tam war in meinen Augen angesichts der niedrigen Wahrscheinlichkeit, dass der dazugehörige Anlass eintritt, ein wahnwitziges Wagnis. Doch die beiden hatten die Wette gewonnen. Ich dagegen musste noch gegen meine Tränen ankämpfen, während ich diesen Sieg und die Umstände, die ihn ermöglichten, auf meinem Weg Schritt für Schritt realisierte.
Die anderen ICAN-Vorstandsmitglieder aus Berlin, Xanthe Hall und Felix Werdermann, und unsere Pressereferentin, Anne Balzer, waren schon da. Wir lagen uns in den Armen und arbeiteten benommen vor Freude die ersten Presseanfragen ab. Gleich einem Eintritt in den Boxring begaben wir uns in den großen Konferenzraum, passierten unzählige Kameras und Mikrophone, während uns die Mitarbeitenden der Böll-Presseabteilung vor zu aufdringlichen Journalisten abschirmten. Dabei befand sich unsere eigentliche Gegnerin gar nicht in derselben Kampfarena. Vielmehr boten wir der Bundesregierung, die in der Bundespressekonferenz fast zeitgleich die Preisvergabe kommentierte, aus der Ferne Paroli. Dabei nutzten wir die Gunst der Stunde, den Abzug der Nuklearwaffen aus Deutschland und Beitritt zum Verbotsvertrag öffentlichkeitswirksam zu fordern.
Der Tag endete mit einem feierlichen Abendessen im Pauly Saal, der ehemaligen Turnhalle der jüdischen Mädchenschule in der Auguststraße. Über uns thronte „Miss Riley“, die rot-weiße Rakete der Künstlerin Cosima von Bonin. Als würde sie an unsere Abrüstungsmission erinnern. Vielleicht aber auch an die Mondreise von Tim und Struppi. Von der hohen Decke leuchteten oppulente Murano-Luster jenen Saal aus, in dem im Februar 2013 das erste Netzwerktreffen der norwegischen ICAN-Sektion in Deutschland endete. Damals sollten die hiesige Zivilgesellschaft und Parlamentsmitarbeitende auf die Humanitäre Initiative und die kurz bevorstehende erste Konferenz zu den Humanitären Auswirkungen von Nuklearwaffen in Oslo aufmerksam gemacht werden. Ich selbst war zu diesem Zeitpunkt Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Bundestag. Die Idee zur Gründung eines deutschen Ablegers keimte auf. Jetzt, vier Jahre später, zelebrierten wir am selben Ort mit edlen Tropfen und feinen Leckerbissen den Erfolg von ICAN in Deutschland.
Zwei Monate danach, am 10. Dezember 2017 befinde ich mich in der Zentrallhalle des monumentalen Osloer Rådhuset. Diesmal erwartet mich die Ansprache von Berit Reiss-Andersen nicht auf dem Bildschirm, sondern in real. Und in bester Tonqualität, denn ich sitze neben dem Mischpult mitten im Saal. Dessen Wände und Böden strahlen in prächtigen, hellen Marmortönen. Vornehme Programmkarten geben Auskunft über die Redebeiträge und musikalische Umrahmung. Auch ein Abbild der Nobelpreis-Urkunde ist darauf zu sehen. Sie schmückt eine Fotografie einer weiß geschminkten, widerständig blickenden Frau, die ein nacktes Baby an ihrem rechten Oberkörper stützt.
Der Stuhl links neben mir ist der einzige unbesetzte Platz im sonst von festlich gekleideten Menschen gefüllten Raum. Wir blicken auf die Wandgemälde des Künstlers Henrik Sørensens, die den paradox anmutenden Titel „Verwaltung und Festlichkeit“ tragen. Sie zeigen Szenen aus der norwegischen Geschichte und Legenden. Aber auch Bilder vom Zweiten Weltkrieg zieren die Südwand, vor der sich die Verleihung abspielen wird. Darunter öffnet eine Fensterreihe die Sicht auf das friedliche und ruhige Wasser des Osloer Fjords. Mir ist, als wäre der Raum nur für diese Zeremonie geschaffen worden.
Mein Nachbarsitz bleibt verweist, als Fanfaren die Ankunft der norwegischen Königsfamilie bejubeln. Die Festgesellschaft erhebt sich. Die noblen Gäste treten ein, gefolgt von den Nobelpreisträgerinnen Beatrice Fihn und Setsuko Thurlow. Eine norwegische Ballade, gesungen in Sopran, stimmt auf die Verleihung ein. Mit starken Worten würdigt Reiss-Andersen den Verdienst ICANs um den Frieden und überreicht die Medaille und Urkunden. Kurz darauf scheint die Zeit still zu stehen vor schöner Musik. Ergreifend trägt John Legend Bob Marleys „Redemption Song“ vor. Mette Marit ist da schon zu Tränen gerührt. Die anschließenden Reden der beiden ICAN-Repräsentantinnen öffnen die Herzen des Publikums nur noch weiter und verbreiten darin Hoffnung. Einzig eine Mine unter den Gästen bleibt versteinert. Die konservative norwegische Ministerpräsidentin Erna Solberg muss harte Kritik einstecken und kann sich in der ersten Reihe nicht wegducken.
Am Nachmittag ist es schon dunkel in Oslo. Wir ziehen in einem großen Fackelumzug zu Ehren ICANs vom Bahnhof zum Grand Hotel gegenüber dem Parlament. Die Luft ist klirrend kalt, die Stimmung herzlich und warm. Gäste aus aller Welt mischen sich mit den Bürgerinnen und Bürgern der norwegischen Hauptstadt auf den Straßen, strecken Banner wie „join the ban“ oder „goodbye nukes“ in die Luft und feiern „ihre“ Nobelpreisträgerinnen. Es ist ein weihnachtliches Volksfest, ein glitzerndes Fest des Friedens. Wie in Oslo startet auch in Berlin eine große Party. Dort haben Freddy, ein befreundeter DJ, Sarah und mein Bruder André im Mensch Meier, einem der angesagtesten Clubs, eine Sause mit erstklassigem Lineup auf die Beine gestellt. Während sich in Oslo nach einem langen Tag allmählich Müdigkeit einstellt, kocht der Berliner Partykessel erst auf. In einer nächtlichen Live-Schalte werde ich sogar ein klein bisschen neidisch. Als geborener Pfälzer und stolz auf das Hambacher Fest weiß ich: Keine Revolution ohne Feiern, Musik und Wein!
Sascha Hach ist Mitgründer und ehemaliges Vorstandsmitglied von ICAN Deutschland.