Europäische Argumente zur nuklearen Aufrüstung

Was als Idee des französischen Präsidenten Emmanuel Macron begann – die französischen Atomwaffen für eine breitere europäische Nutzung bereitzustellen –, hat sich schnell zu einer umfassenden Debatte über nukleare Proliferation entwickelt. Staats- und Regierungschefs bemühen sich, auf die Unsicherheiten zu reagieren, die durch Trumps zahlreiche außenpolitische Veränderungen entstanden sind. In Europa und Asien diskutieren politische Führungskräfte offen über eine neue nukleare Aufrüstung, einige schlagen sogar vor, Atomwaffen auf ihrem Staatsgebiet zu stationieren. Diese Vorschläge stehen in offenem Widerspruch zu den internationalen rechtlichen Verpflichtungen ihrer Länder im Rahmen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV).

ICAN hat die folgenden Argumente zusammengestellt, um dabei zu helfen, das Thema anzusprechen und Bedenken bei relevanten Akteur:innen zu äußern:

Atomwaffen in Europa sind für den Einsatz in Europa gedacht

Es ist unehrlich, über Atomwaffen in abstrakten Begriffen zu sprechen, wenn ihr geplanter militärischer Einsatz in einem europäischen Kriegsszenario liegt. Diese Waffen sind für den Abschuss und die Explosion auf europäischem Boden vorgesehen – mit all den katastrophalen humanitären Folgen, die das mit sich bringt. Allein die Präsenz von Atomwaffen in Europa erhöht die Wahrscheinlichkeit eines Atomkonflikts und setzt Millionen unschuldiger Zivilist:innen einem Risiko aus. Dies ist keine hypothetische Bedrohung – sie ist real und gegenwärtig.

Eine europäische Atomstreitmacht verletzt den NVV und den AVV

Alle europäischen Länder haben rechtsverbindliche Verpflichtungen im Rahmen des Nuklearen Nichtverbreitungsvertrags (NVV), keine Kontrolle über Atomwaffen zu übernehmen. Eine Verbreitung von Atomwaffen in Europa würde den ohnehin unter Druck stehenden NVV weiter untergraben. Ohne den NVV könnten andere Staaten eigene Atomwaffenprogramme verfolgen, was Europa und die Welt noch unsicherer machen würde. Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) stellt eine wachsende globale Norm dar und fordert die vollständige nukleare Abrüstung. Jede Maßnahme zur Erweiterung der nuklearen Fähigkeiten Europas würde diesem Ziel widersprechen.

Die Normalisierung von Atomwaffen nützt Russland

Die einzigen Profiteur:innen einer europäischen nuklearen Aufrüstung sind Aggressor:innen, die die Nutzung dieser Waffen normalisieren wollen. Der Ausbau oder die Schaffung eines europäischen Atomarsenals spielt ihnen in die Hände, indem er die Vorstellung verstärkt, dass Atomwaffen ein legitimes Mittel der Außenpolitik seien. Dies führt zu mehr Instabilität und erleichtert es anderen Akteur:innen, nukleare Proliferation zu rechtfertigen.

Ein europäischer „nuklearer Schutzschild“ ist eine Illusion

Die Idee, dass Frankreich einen „nuklearen Schutzschild“ für Europa bieten könnte, ist zutiefst problematisch. Sie beruht auf der Annahme, dass Paris bereit wäre, das eigene Überleben zu riskieren, um ein anderes Land zu verteidigen. Europa müsste jederzeit eine höhere Einsatzbereitschaft für den Nuklearschlag aufrechterhalten als Russland. Putin, ein international gesuchter Kriegsverbrecher, „abschrecken“ zu wollen, ist keine kluge Strategie. Doch selbst wenn: Nicht einmal Frankreich und Großbritannien zusammen könnten Russland realistisch mehr Schaden zufügen, als sie selbst in einem Gegenschlag erleiden würden. Die Vorstellung einer schützenden europäischen Nuklearstreitmacht ist eine Illusion, keine tragfähige Strategie.

Eine nukleare Aufrüstung Europas würde zu lange dauern, um eine sinnvolle Sicherheitsstrategie zu sein

Jede geplante europäische nukleare Aufrüstung würde Jahre der kontinuierlichen politischen Unterstützung und massive finanzielle Investitionen erfordern. Selbst Befürworter:innen der nuklearen Abschreckung geben zu, dass sie keine unmittelbare Bedrohung reduzieren oder kurzfristig Sicherheit schaffen kann.

Allgemeine Argumente gegen nukleare Abschreckung

Nukleare Abschreckung garantiert keine Sicherheit

Die Annahme, dass Atomwaffen Sicherheit bieten, basiert auf der Vorstellung, dass nukleare Abschreckung niemals versagen kann. Abschreckung funktioniert jedoch nur, wenn die Drohung mit Massenvernichtung glaubwürdig ist – das bedeutet, dass eine Regierung bereit sein muss, Massenmord in bisher unbekanntem Ausmaß zu begehen. Ein derartiges Prinzip sollte nicht die Grundlage einer Sicherheitspolitik sein.

Nukleare Abschreckung führt zu einem gefährlichen Kreislauf

Damit Atomwaffen als Abschreckung glaubwürdig sind, muss ein Staat bereit sein, Städte zu zerstören und Millionen von Zivilist:innen zu töten. Doch wenn ein Land bereit ist, diese Linie zu überschreiten, warum sollte ein anderes Land nicht ebenso bereit sein, dies zu erwidern? Die Logik der Abschreckung funktioniert in beide Richtungen und macht sie zu einer unsicheren und gefährlichen Grundlage für Sicherheit. Sie treibt ein nukleares Wettrüsten voran und erhöht das Risiko eines katastrophalen Konflikts.

Atomwaffen sind keine „normalen Waffen“

Atomwaffen unterscheiden sich grundlegend von konventionellen Waffen. Sie unterschieden nicht, sind unmenschlich und militärisch nutzlos. Ihr verheerendes Erbe reicht weit über das Schlachtfeld hinaus. Der Krieg in der Ukraine wird mit konventionellen Waffen geführt – Soldat:innen, Panzern, Drohnen und Artillerie – nicht mit Atomwaffen. Für Russland und die Ukraine sind Atomwaffen keine praktikable militärische Option. Waffen, die gezielt langfristiges Leid verursachen, sind verboten – und das aus gutem Grund: Sie schützen keine Menschen, sondern setzen sie einer noch größeren Gefahr aus.

Nukleare Abschreckung bedeutet, bereit zu sein, Massenmord zu begehen

Der Kern der nuklearen Abschreckung ist die Drohung, ganze Bevölkerungen auszulöschen. Regierungen, die sich auf nukleare Abschreckung verlassen, müssen die Glaubwürdigkeit dieser Drohung aufrechterhalten – und damit signalisieren, dass sie bereit sind, Massenmord zu begehen. Dies ist keine legitime Sicherheitspolitik, sondern ein moralischer, rechtlicher und politischer Abgrund, den es abzulehnen gilt.

Das Risiko eines Atomkriegs ist bereits viel zu hoch

Die Gefahr, dass Atomwaffen wieder eingesetzt werden, ist so hoch wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Das Bulletin of the Atomic Scientists hat die Doomsday Clock näher an Mitternacht herangerückt als je zuvor – ein deutliches Zeichen für das steigende Risiko eines Atomkriegs. Es ist höchste Zeit zu handeln – bevor die Bedrohung zur Realität wird.

80 Jahre Leben unter der Bedrohung eines Atomkriegs

Seit der ersten Atomexplosion (Trinity) und den Bombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki sind 80 Jahre vergangen. Überlebende haben den Ruf nach nuklearer Abrüstung vorangetrieben – unter anderem durch Initiativen wie den Atomwaffenverbotsvertrag. Der AVV ist ein klares und dringendes Signal, Atomwaffen ein für alle Mal abzuschaffen.