In der Online-Veranstaltung zum Thema Atomwaffentests haben Aigerim Seitenova, Benetick Kabua Maddison und Emad Kiyaei ihre Expertise und Erfahrungen geteilt. Die Diskussionen umfassten verschiedene Schwerpunkte und es standen unterschiedliche Regionen im Mittelpunkt: Kasachstan, die Marshall Inseln und Algerien.
Aigerim Seitenova (Aktivistin, Atomwaffenüberlebende in 3. Generation)
Die Geschichte der Atomwaffentests in Kasachstan:
Aigerims Geschichte beginnt Ende der 1940er Jahre, als die Führung der UDSSR Atomwaffentests in Kasachstan genehmigt. Der Ort wurde, wenig überraschend, fern von Moskau und den verantwortlichen Personen gewählt. Wer will schon Atomwaffentests in der eigenen Nachbarschaft durchführen? Doch die Entscheidung wurde auch pragmatisch gefällt, denn in Kasachstan gab es eine ausgebaute Eisenbahnstrecke, perfekt also, um das notwendige Material für die Tests zu transportieren. Doch die Behauptung, dass es dort keine Menschen gegeben hätte, die von den Atomwaffentests betroffen waren, das ist eine Lüge. Aigerims Großmutter war damals ein Kind. Sie erzählte ihr öfter davon, wie sie eines regnerischen Tages mit ihren Freund*innen draußen spielte. An diesem Tag sei das Spielen besonders spannend gewesen, denn die Pfütze sei ganz grünlich gewesen, ganz wundersam. Warum diese Pfütze, in der die Kinder spielten, grün war, das verstanden sie natürlich nicht, und auch die Eltern wurden von der verantwortlichen Regierung über die Ursache im Unklaren gelassen. Der Schutz der Bevölkerung spielte vor allem bei den ersten Tests für die Regierung keine größere Rolle. Die Fenster wackelten und allen klar war, dass irgendetwas passiert sein musste. Nur was, das wusste man nicht genau.
Folgen der Atomwaffentests:
Es handelt sich hierbei um das Gebiet Semei (früher Semipalatinsk). Die ersten Waffen wurden dort am 29. August 1949 getestet. Das Testgelände an sich hatte eine Fläche von ungefähr 18 000 km². In Kasachstan führte die UDSSR über 400 Atomwaffentests durch. An den Folgen dieser Tests leiden die Menschen bis heute. Die Zivilbevölkerung wusste nicht, was passiert und wurde nicht darauf vorbereitet. In den 1950er und 1960er Jahren kam es in der betroffenen Region durch die Tests zu einer erhöhten Krebsrate und es traten vermehrt körperliche Veränderungen bei Neugeborenen auf. Dazu kommt, dass gerade in abgelegenen Gebieten der Zugang zu Gesundheitsversorgung oft eingeschränkt und teuer ist. Gesundheitliche Folgen sind oftmals indirekt und manchmal unsichtbar. In der Natur hingegen sind die Folgen von Atomwaffentests alles andere als unsichtbar. Satellitenaufnahmen der alten Teststelle zeigen sehr eindeutig, wo die Tests durchgeführt wurden. Bis heute. Und auch Tiere litten natürlich unter den Folgen, und für die Bevölkerung zeigten sich damit weiteredramatische Nebeneffekte der Tests, denn sie waren auf Nutztiere finanziell angewiesen. Aigerim und ihre Generation werden offiziell nicht mehr als Opfer gezählt, aber die Schäden der Tests sind intergenerationell.
Intransparenz und Imperialismus:
Erst verstanden viele Menschen nicht, was passierte. Doch bald formierte sich eine Bewegung, die Antworten von der UDSSR Führung verlangte. Auch hier ist fehlende Transparenz ein großes Problem: Viele Untersuchungsergebnisse und Aufzeichnungen der Regierung der UDSSR über die Tests und ihre Folgen sind nach wie vor in Russland, und die Regierung weigert sich, diese herauszugeben. Die Geschichte von Atomwaffentests ist auch im Fall von Kasachstan eine Geschichte von Macht und Unterdrückung, und diese setzt sich bis in die Gegenwart fort. Heute gibt es verschiedene Betroffenenorganisationen weltweit, die sich untereinander schon vor Aufkommen des Internets früh vernetzt haben.
Hörtipp: Um den Stimmen von Betroffenen eine Plattform zu geben, hat Aigerim eine Podcastreihe mit dem Namen „Nuclear Collateral Damage: Conversations with Survivors and Experts“ gestartet. Hierfür hat sie u.a. mit vielen Aktivist*innen aus verschiedenen Ländern gesprochen.
Benetick Kabua Maddison (Exekutivdirektor von MEI)
Der Hintergrund der Atomwaffentests auf den Marshall Inseln:
Die Marshallinselnim Nord-Mittelpazifik sind eine Inselgruppe, von der Teile durch die USA als Testgebiet für Atomwaffen genutzt wurden. Nach wechselnden kolonialen Ansprüchen, beginnend mit Deutschland, beanspruchten die USA Herrschaft über die Inselgruppe und sah es als rechtmäßig an dort zu testen. Der Beschluss fiel durch Präsident Truman und wurde von der US Navy durchgesetzt. Dabei wurde die vorher, vor allem von der deutschen Besetzung, durchgeführte Missionierung, als Argumente zur Umsiedlung der Bewohnenden genutzt.
Die Marshallinseln wurden in den Jahren zwischen 1946 und 1962 aufgrund von 67 Atomwaffentests der USA stark in Mitleidenschaft gezogen. Als Folge davon sind einige Inselgruppen heute unbewohnbar, und die ökologischen Auswirkungen dieser Tests sind noch immer spürbar. Die Tests wurden nicht von den USA im Alleingang beschlossen, sondern von der UN im Jahr 1947 abgesegnet.
Auswirkungen der Tests:
Die Bewohnenden des Bikini-Atolls wurden damals gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, in der Hoffnung, eines Tages zurückkehren zu können. Ihnen wurde vermittelt, dass dies Gottes Wille sei, während die eigentliche Ursache in politischen und militärischen Entscheidungen der USA lag. Allein die Atombombentestserie mit dem Codenamen „Castle Bravo“, die 1954 durchgeführt wurde, hatte die 1.000-fache Kraft der Atombombe von Hiroshima. Es war die größte oberirdische Atomwaffenexplosion, die die USA durchführte. Diese Tatsache gibt einen erschreckenden Einblick in die massiven Auswirkungen für die auf den Marshallinseln lebende Bevölkerung und ihre Umwelt. Die Menschen dort waren nicht darauf vorbereitet, sie wurden nicht aufgeklärt: Die Asche der Atombombe landete auf Kindern, die mit dem Schnee, für den sie die Asche hielten, spielten. Durch die Tests traten und treten bis heute gesundheitliche Schäden auf. Dazu gehören eine erhöhte Krebsrate und körperliche Veränderungen bei Neugeborenen.
Diese tragische Geschichte verdeutlicht nicht nur den verantwortungslosen und rücksichtslosen Umgang der USA mit der lokalen Bevölkerung und ihrem Lebensraum. Sie zeigt auch die verheerenden Konsequenzen von Atomwaffentests und die Notwendigkeit internationaler Bemühungen zur nuklearen Abrüstung und zum Schutz gefährdeter Regionen weltweit.
Emad Kiyaei (Direktor von METO)
Atomwaffen und die MENA-Region:
Atomwaffen sind neben Bio- und Chemiewaffen eine von drei hochgefährlichen Massenvernichtungswaffen, die in der MENA-Region bis heute präsent sind. Atomwaffen werden in Hinblick auf die MENA-Region heute vor allem mit Israel und Iran in Verbindung gebracht. Nicht vielen Menschen ist bewusst, dass Frankreich in Algerien in den 1960er Jahren Atomwaffentests durchgeführt hat. Ein Ausdruck von Kolonialismus, der sich selbst nach der Unabhängigkeit Algeriens 1962 fortsetzte, denn die französische Regierung nutzte ihre Macht, um auch in den Folgejahren noch in Algerien unterirdische Atomwaffentests durchzuführen. Bis heute verweigert sich die französische Regierung jeglicher Verantwortung für die Folgen ihres Handelns. Die Atomwaffenaktivitäten, die als Verbrechen deklariert werden müssen, wurden schlichtweg unter den Teppich gekehrt. Die betroffenen Menschen erhielten keine ausreichenden Informationen und es erfolgte keine Aufklärung über die Risiken und Gefahren im Zusammenhang mit den Atomwaffentests. Die Auswirkungen auf die lokale Bevölkerung sowie die Umwelt waren verheerend. Sie sind weiterhin spürbar, denn bis heute wurde keine umfassende Dekontaminierung der betroffenen Region durchgeführt.
Es ist erschütternd, dass die Betroffenen und deren Nachkommen über 60 Jahre nach den französischen Atomwaffentests in Algerien noch immer auf eine Entschuldigung, Anerkennung der Verbrechen und eine Entschädigung von den Franzosen warten. Frankreich muss endlich Verantwortungsbewusstsein zeigen.
Kompensation:
Der Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) bezieht die Opfer und Überlebenden von Atomwaffentests explizit in den Vertrag mit ein. Artikel 6 regelt „victim assistance and environmental remediation“. Sollte es in der MENA-Region einen Vertrag geben, der eine massenvernichtungswaffenfreie Region schafft, könnte ein ähnlicher Artikel aufgenommen werden, um Überlebende in Algerien zu kompensieren. Das Problem ist allerdings: Wie soll eine echte Verantwortlichkeit für die Folgen von Atomwaffentests hergestellt werden, wenn die Atomwaffenstaaten einem solch fortschrittlichen Vertrag wie dem AVV nicht beitreten?
Bewusstsein schaffen für das, was damals passiert ist:
Die Diskussion kommt auf die Frage zu sprechen, ob es ein Bewusstsein für die Folgen und die Überlebenden von Atomwaffentests in der Gesellschaft gibt, sowohl in Algerien als auch in Frankreich. In Algerien scheint es offenbar inzwischen ein wachsendes Bewusstsein für dieses Verbrechen der französischen Regierung zu geben und es gibt Organisationen und Menschen, die sehr aktiv sind und sich dafür einsetzen, Gerechtigkeit und Verantwortlichkeit herzustellen. In Frankreich scheint es hingegen kaum Bewusstsein zu geben. Aber einige wenige unabhängige Forschende versuchen, dieses Bewusstsein zu vergrößern und sich mit den Opfern und Überlebenden in Algerien zu solidarisieren. Ein hauptsächliches Problem bei diesen Bemühungen ist allerdings, dass es nur eingeschränkte Informationen gibt zu dem, was damals geschehen ist. Transparenz herzustellen ist daher ein wichtiger Baustein auf dem Weg zu Gerechtigkeit, aber es ist eine schwere Aufgabe angesichts der resoluten Intransparenz der französischen Regierung.
Solidarität und Zusammenarbeit:
Neun Staaten besitzen Atomwaffen und halten damit die Welt in Geiselhaft. Zwei Aspekte werden in der Diskussion besonders deutlich: Erstens: Um Verantwortlichkeit für die Atomwaffentests herzustellen, ist es wichtig, alle weltweit vorhandenen Ressourcen zusammenzubringen und sich international mit den Überlebenden zu solidarisieren. Und zweitens: Die Stimmen der Betroffenen und Überlebenden von Atomwaffentests zu hören, ist nicht nur wichtig, sondern muss der Kern aller Bemühungen sein, der Gefahr dieser Massenvernichtungswaffe zu begegnen.
Fazit
In abschließenden Statements haben die drei Redner*innen jeweils ihre Motivationen und Wünsche für die Zukunft Ausdruck dargelegt. Emad unterstreicht, dass die Geschichten der Überlebenden ähnlich auf der ganzen Welt sind und dass eine gemeinsame, starke Stimme einflussreicher ist. Er betont das Zusammenspiel von Ungerechtigkeit und Macht in dem Atomwaffendiskurs und plädiert für ein gemeinsames Streben nach Gerechtigkeit. Benetick betont die Wichtigkeit des Storytelling. Die Wichtigkeit, davon zu berichten, was gerade passiert, besonders mit den Menschen. Viele Menschen seien sich der Probleme der Betroffenen nicht bewusst, vor allem nicht die der Marshallinseln, auch die Verantwortlichen aus den USA nicht. Aigerim erläutert, dass es heilend wirken kann, sich in verschiedenen Gemeinschaften zu engagieren und sich mit anderen Betroffenen zu vernetzen. Gerechtigkeit zu erlangen kann traumatisch sein. Deshalb sei das Erschaffen von Safe Spaces bedeutend, genau wie der Reflexionsprozess über das Geschehene.
Ihre Appelle an die Bundesregierung sind:
- die nukleare Teilhabe beenden;
- das Bewusstsein über die Auswirkungen der Atomwaffenindustrie in der deutschen Öffentlichkeit stärken;
- die Vereinbarungen der Erklärung zur feministischen Außenpolitik einhalten;
- eine Beobachterrolle der Staatenkonferenz zum Atomwaffenverbotsvertrag einnehmen;
- den Betroffenen zuhören und sie unterstützen (auch finanziell).
Die Arbeit von Emad Kiyaei, Benetick Kabua Maddison, Aigerim Seitenova und vielen weiteren ist so wertvoll, schaffen sie doch Bewusstsein und Aufklärung für Verbrechen, die im Bewusstsein vieler Menschen längst vergessen oder verdrängt sind.
Auch an dieser Stelle ein großes Danke an all diejenigen, die Teil der Veranstaltung waren.
Geschrieben von Hubertus Sonntag, Mara Marx, Anila Fischer, Paula Bonara und Janina Rüther