Wird der Vertrag die Debatte zu Atomwaffen beeinflussen?
Ja – denn die Debatte zur nuklearen Abrüstung ist nach dem Kalten Krieg zum Stillstand gekommen. Der öffentliche Fokus richtet sich in den letzten Jahren vor allem auf die Herausforderungen der Nichtweiterverbreitung von Atomwaffen (Iran, Nordkorea). Atomwaffen werden als Symbole der Macht und Stärke stilisiert. Der neue Vertrag und die Bewegung dahinter stellt das in Frage. Aus Sicht der überwätigenden Mehrheit der Staaten sind Atomwaffen schlicht inakzeptabel, ein unkalkulierbares Risiko für ihre Bevölkerungen. Fast alle Staaten haben dauerhaft auf Atomwaffen verzichtet. In einer multipolaren Welt der asymmetrischen Kriegsführung, der nichtstaatlichen Akteure, der Cyber- und Drohnenkriege ist dieses Festhalten an Atomwaffen nicht etwa “realistisch”, sondern hochgefährlich. Der Glaube, wir könnten langfristig auf nukleare Abschreckung setzen und Tausende Atomwaffen 24 Stunden am Tag einsatzbereit halten, ohne dass sie jemals eingesetzt werden, ist bestenfalls naiv.
Jene Staaten, die nicht auf nukleare Abschreckung setzen haben mit dem AVV erstmals ihre Position zu Atomwaffen völkerrechtlich kodifiziert. Auf dieser Grundlage können sie mit größerer Geschlossenheit und Vehemenz ihr Recht einfordern, den von Atomwaffen ausgehenden Risiken nicht länger ausgesetzt zu sein.
Insbesondere bei der 2021 vorgesehenen Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrages (NVV) ist zu erwarten, dass die Mehrheit der Staaten, die Fortschritte in der Abrüstung fordert, geschlossener und durchsetzungsfähiger auftreten wird. Bisher ist der NVV von einer Handvoll nuklear bewaffneter Staaten dominiert, und allzu ambitionierte Initiativen, beispielsweise überprüfbare und zeitlich terminierte Reduktionen, werden seit Jahrzehnten blockiert. Der AVV wird das Aufschiebeverhalten der Atomwaffenstaaten sichtbar machen und erschweren.
Ausführliche Informationen zur Bedeutung des AVV könnt ihr unserem Briefing lesen.
Wie kann Deutschland dem AVV beitreten?
Deutschland kann dem AVV sofort beitreten. Im Zuge der Ratifikation müssten die Gesetze so angepasst werden, dass deutsche Firmen und Banken nicht mehr an der Herstellung und Wartung von Atomwaffen und Trägersystemen arbeiten bzw. diese finanziell unterstützen dürfen. Airbus dürfte Frankreich nicht mehr mit atomwaffenfähigen Raketen beliefern, ThyssenKrupp müsste Transparenz über die U-Boote für Israel schaffen, die möglicherweise für den Einsatz seegestützter Raketen ausgelegt sind. Finanzinstitute wie die Allianz, die größere Kredite u.a. an Aerojet Rocketdyne, BAE Systems und Boeing vergibt, müssten aus diesem Geschäft aussteigen.
Deutschland ist NATO-Mitglied und Lagerort für ca. 20 US-Atomwaffen. Im Rahmen der „nuklearen Teilhabe“ der NATO stellt Deutschland Trägerflugzeuge und Piloten für den Ernstfall des Atomwaffeneinsatzes zur Verfügung. Der Einsatz wird jedes Jahr bei der Militärübung „Steadfast Noon“ geübt. Deutschland nimmt auch an der Einsatzplanung in der Nuklearen Planungsgruppe teil. Diese Aktivitäten wären mit einem Beitritt zum AVV untersagt. Deutschland müsste gemäß Artikel 4(4) erklären, wie das Land aus der nuklearen Teilhabe aussteigen wird, hierzu gemeinsam mit den AVV-Vertragsstaaten einen Zeitplan ausarbeiten und diesen umsetzen, gefolgt von internationaler Verifikation.
Außerdem müsste Deutschland mit seinen NATO-Partnern vereinbaren, aus der erweiterten nuklearen Abschreckung auszusteigen, und nicht länger an nuklearen Simulationen und Trainings teilnehmen. Die NATO-Mitgliedschaft sowie die Bündnissolidarität gemäß Artikel 5 des NATO-Vertrags bleibt davon unberührt.
Wie wirkt sich der AVV schon jetzt auf Deutschland aus?
Bisher ist Deutschland Mitglied aller multilateraler Abrüstungsverträge. Das Land sieht sich als Verfechter der Menschenrechte, Abrüstung und Rüstungskontrolle. Insbesondere die humanitären Werte, die zur Verhandlung des AVV geführt haben, gestalten es äußerst schwierig, ein Fernbleiben vom Vertrag zu rechtfertigen. Dauerhaft außerhalb eines UN-Vertrags mit dieser Reichweite zu bleiben, ist politisch nur schwer vermittelbar. Schon heute hat sich im Bundestag ein Parlamentskreis „Atomwaffenverbot“ konstituiert, in dem Abgeordnete aller demokratischen Parteien das Thema in halbjährlichen Treffen auf die Agenda setzen. 16 von 16 Landeshauptstädten fordern die Bundesregierung auf, den Verbotsvertrag beizutreten, insgesamt sogar über 100 deutsche Städte, darunter Berlin, München, Hamburg, Köln sowie vier Bundesländer, darunter Rheinland-Pfalz, wo die US-Atombomben gelagert werden.
Wie verhält sich die öffentliche Meinung in Deutschland?
In Anbetracht der öffentlichen Meinung – 92 Prozent der Deutschen unterstützen den deutschen Beitritt zum Atomwaffenverbot laut einer repräsentativen Umfrage von Kantar für Greenpeace im Juli 2020 – ist es letztlich eine Frage der Zeit, bis die politische Konstella-tion auf Bundesebene den AVV-Beitritt ermöglicht.
Wie verhält sich die NATO zum AVV?
Schon heute haben zwei ehemalige NATO-Generalsekretäre die NATO-Staaten dazu aufgerufen, dem Vertrag beizutreten, und darauf hingewiesen, dass ein Verbot von Atomwaffen durchaus mit der NATO vereinbar ist.[Link] Insgesamt haben 56 ehemalige Staats- und Regierungschefs bzw. Außen- und Verteidgungsminister aus NATO-Staaten ihre Länder dazu aufgerufen, dem Vertrag beizutreten.
Bereits 2016 haben die USA in einem Brief an NATO-Partner erläutert, wie ein Verbot von Atomwaffen die Legitimität der nuklearen Abschreckung unterminieren wird, weswegen alle NATO-Staaten dazu aufgerufen wurden, den Vertrag zu boykottieren. Die NATO hat auch im Dezember 2020 nochmals öffentlich geäußert, dass sie den neuen Vertrag weiter ablehnt.
Bisher heißt es seitens der NATO, ein Beitritt zum AVV sei mit der Mitgliedschaft unvereinbar. Dies erleichtert es den NATO-Staaten, ihre Ablehnung innenpolitisch zu rechtfertigen. Dennoch erwähnt der Gründungsvertrag der NATO Atomwaffen mit keinem Wort [Link]. Das aktuelle Strategische Konzept definiert die NATO zwar als „nukleare Allianz“ [Link], verpflichtet sich aber gleichzeitig dazu, die „Bedingungen für eine atomwaffenfreie Welt zu schaffen“. Der AVV trägt dazu bei, diese Bedingungen zu schaffen.