Welche Position vertritt die neue Bundesregierung zu Atomwaffen und nuklearer Abrüstung?
Im Folgenden soll diese Frage zusammenfassend behandelt und eingeordnet werden. Dabei geht es im Einzelnen um den Koalitionsvertrag und um erste Anzeichen aus den Ministerien, die Hinweise darauf erkennen lassen, welche Richtung in entscheidenden Fragen eingeschlagen werden soll.
Kampagnen und Forderungen von ICAN
ICAN fordert die Bundesregierung zur Unterzeichnung, Ratifikation und Anerkennung des Atomwaffenverbotsvertrags (AVV) auf. Der erste Schritt in diese Richtung ist, die anstehende Vertragsstaatenkonferenz in Wien zu beobachten, welche derzeit für Sommer 2022 geplant ist.[1]
Weiterhin fordert ICAN den Abzug der in Deutschland (Büchel) stationierten US-Atombomben und damit den Ausstieg aus der nuklearen Teilhabe. Im Zuge dessen ist es unverzichtbar, dass sich die Bundesregierung gegen eine Neuanschaffung atomwaffenfähiger Kampfflugzeuge als Nachfolge für den Tornado-Kampfjet entscheidet. Eine derartige Neuanschaffung würde die nukleare Teilhabe Deutschlands auf Jahrzehnte festlegen.
Laufende Kampagnen, welche diese Forderungen unterstützen sollen, sind zum einen die Kampagne „Atombomber? Nein Danke!“[2] und zum anderen der ICAN-Städteappell sowie die Bundesländerbeschlüsse[3] und die ICAN-Abgeordnetenerklärung.[4]
Position der Bundesregierung
Zentrale inhaltliche Bezüge der Bundesregierung zu Atomwaffen lassen sich vor allem in den Kapiteln „Abrüstung, Rüstungskontrolle, Rüstungsexporte“ sowie „Verteidigung und Bundeswehr“ des Koalitionsvertrags erkennen.
So wird im erstgenannten Kapitel[5] das gemeinsame Ziel der Koalitionspartner einer atomwaffenfreien Welt (Global Zero) und dementsprechend auch das Ziel eines atomwaffenfreien Deutschlands ausgerufen. Weiterhin heißt es hier, dass Deutschland eine führende Rolle bei internationalen Abrüstungsinitiativen wie der Stockholm-Initiative für Nukleare Abrüstung einnehmen und für Impulse von der Überprüfungskonferenz des Nichtverbreitungsvertrags (NVV) sorgen soll. Die anstehende Vertragsstaatenkonferenz des AVV soll Deutschland nach dem Willen der Bundesregierung als beobachtender Staat konstruktiv begleiten. Damit wäre Deutschland der zweite NATO-Staat nach Norwegen und der allererste Staat, auf dessen Territorium Atomwaffen lagern, der die Konferenz beobachtet.
Aus der Perspektive von ICAN ist dieses Kapitel des Koalitionsvertrages zunächst in einem positiven Licht zu sehen. Besonders wichtig ist hier das Signal der beobachtenden Teilnahme in Richtung einer Unterstützung des AVV, was im Rahmen der atomaren Abschreckung der NATO einen außergewöhnlichen Fortschritt darstellt. Dadurch zeigt sich jetzt, entgegen aller vorherigen Kritik, dass sich NATO-Mitgliedschaft und Anerkennung des AVV nicht gegenseitig ausschließen. Auch das Ziel eines atomwaffenfreien Deutschlands sowie die weiteren abrüstungspolitischen Initiativen sind zu begrüßen, jedoch nicht neu und in der Vergangenheit bereits deutlicher formuliert worden.[6]
Das zweite genannte Kapitel „Verteidigung und Bundeswehr“ bildet dazu einen Kontrast, da hier die nukleare Abschreckung im Vordergrund steht. Hier heißt es, dass zu Beginn der Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado beschafft werden soll. Der Beschaffungs- und Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands soll dabei sachlich und gewissenhaft begleitet werden.[7] Was damit gemeint ist, bleibt zunächst offen. Zudem findet sich im Kapitel „Multilateralismus“ ein Bekenntnis zur Aufrechterhaltung eines glaubwürdigen Abschreckungspotenzials sowie die Aussage, dass Deutschland ein Interesse daran habe, an der strategischen Ausrichtung mitwirken zu können, solange Atomwaffen Teil der Strategie der NATO blieben.[8]
Damit lässt der Koalitionsvertrag Raum zur Interpretation und damit zum zivilgesellschaftlichen Engagement. Die Teilhabe an den strategischen Planungen der NATO ist auch ohne eine Stationierung von Atomwaffen im eigenen Territorium gegeben, da in den NATO-Gremien im Konsensprinzip abgestimmt wird. Darüber hinaus kann aus Sicht von ICAN glaubwürdige Abschreckung keine nukleare Komponente enthalten. Die Drohung mit Massenvernichtung ist weder akzeptabel noch realistisch. Durch komplizierte Befehlsketten und Abläufe, geringer Reichweite und unklarer politischer Verantwortung tragen die in Büchel stationierten Atomwaffen nicht zur Abschreckung bei. Entscheidend für die Fortsetzung der nuklearen Teilhabe wird die Frage des Nachfolgesystems für das Tornado-Modell sein. Die Bundesregierung hat die historische Chance, Deutschland durch den Verzicht auf die nuklearen Fähigkeiten des Flugzeuges zu einem atomwaffenfreien Land zu machen.[9]
Letztendlich bleibt festzuhalten, dass sich die Koalition für eine widersprüchliche Haltung zur nuklearen Abschreckung im Gesamtkontext der NATO entschieden hat. Die Entscheidung der Koalition zugunsten einer Beibehaltung der nuklearen Teilhabe steht im Gegensatz zur Absicht der Regierenden, die Vertragsstaatenkonferenz des AVV zu beobachten.[10] Es ergibt sich ein Zwiespalt, der sowohl Risiken für eine auf Jahrzehnte festgelegte Teilhabe an veralteten Dogmen nuklearer Abschreckungspolitik als auch Chancen für einen Paradigmenwechsel hinzu neuen Konzepten birgt.
Erste Anzeichen
Die Verteidigungsministerin Christine Lambrecht (SPD) äußerte sich jüngst in einem hauseigenen Interview des Ministeriums zu diesem Zwiespalt. Sie bekräftigte dabei das Ziel einer atomwaffenfreien Welt und Abrüstungsbestrebungen, nannte aber im gleichen Atemzug die Bedingung, dass Deutschland erst von einer nuklearen Teilhabe absehen könne, wenn Atomwaffen keine Bedrohung des Weltfriedens mehr seien.[11] Weiterhin führte sie an, dass Deutschland, solange dies Teil der NATO-Strategie wäre, weiterhin für die nukleare Teilhabe sei, um weiter mitreden zu können. Eine beobachtende Teilnahme an der Vertragsstaatenkonferenz des AVV würde dem jedoch nicht entgegenstehen, sondern ergänzend wirken. Hinsichtlich der Tornado-Nachfolge lägen alle Optionen auf dem Tisch.
Damit manifestiert sich das Paradox der Regierung. Mit der eigenen nuklearen Teilhabe trägt Deutschland zu dieser Bedrohungslage bei und folglich wäre dieser Argumentation zufolge jegliche Abrüstung, geschweige denn eine atomwaffenfreie Welt, niemals zu realisieren. Die Tornado-Nachfolge bleibt weiterhin unklar, ist jedoch im Rahmen dieser Aussagen weiterhin kritisch zu beobachten.
Von Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) waren im Dezember noch deutlich andere Signale ausgegangen.[12] So sprach sie im Zuge der Zusammenkunft der Stockholm-Initiative, davon dass die atomare Abrüstung dringend neue Impulse brauche und Deutschland dabei eine Führungsrolle übernehmen müsse. Inwiefern sich welche Sichtweise der verschiedenen Ministerien und damit einhergehend auch Parteien innerhalb der Regierung durchsetzen wird, bleibt abzuwarten.
Nächste Schritte
Um das Ziel eines Deutschlands frei von Atomwaffen zu erreichen, sollte die Bundesregierung als erstes an der geplanten beobachtenden Teilnahme bei der Vertragsstaatenkonferenz des AVV wie im Koalitionsvertrag vereinbart festhalten und offiziell erklären.
Weiterhin ist die Neubeschaffung atomwaffenfähiger Kampfjets, welche eine nukleare Teilhabe Deutschlands auf Jahrzehnte festlegen, abzulehnen.
Schließlich sollte Deutschland auch innerhalb der NATO einen Prozess anstoßen, der die Rolle von Atomwaffen diskutiert und moderne Sicherheitspolitik in den Vordergrund stellt, statt weiterhin einer politischen Strategie aus dem vergangenen Jahrhundert zu folgen.
Quellen
[1] ICAN Deutschland (2021), Briefing „Beobachtung der ersten Vertragsstaatenkonferenz zum UN-Vertrag über ein Verbot von Atomwaffen“, https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2021/10/2021_10_20_MSP_observer_status.pdf.
[2] https://atombomber-nein-danke.de/.
[3] https://www.icanw.de/ican-staedteappell/.
[4] https://www.icanw.de/abgeordnetenerklaerung/.
[5] Koalitionsvertrag (2021), https://www.bundesregierung.de/resource/blob/974430/1990812/04221173eef9a6720059cc353d759a2b/2021-12-10-koav2021-data.pdf?download=1, S.145.
[6] ICAN Deutschland (2021), Briefing „Der Koalitionsvertrag und Atomwaffen – Was können wir von der neuen Bundesregierung erwarten?“, https://www.icanw.de/wp-content/uploads/2021/12/Briefing-Koavertrag.pdf.
[7] Koalitionsvertrag (2021), S.148.
[8] Koalitionsvertrag (2021), S.144 f..
[9] ICAN Deutschland (2021), Briefing „Der Koalitionsvertrag und Atomwaffen – Was können wir von der neuen Bundesregierung erwarten?“.
[10] Bayer et al. (2021), Was dürfen wir erwarten? Sicherheitspolitische Anmerkungen zum Koalitionsvertrag, https://gids-hamburg.de/wp-content/uploads/2022/01/GIDSStatement_2021_11_Bayer_et_al_220111-1.pdf, S.8.
[11] Bundesministerium der Verteidigung (2022), Lambrecht im Interview: „Wir können viel erreichen.“, https://www.bmvg.de/de/aktuelles/lambrecht-interview-wir-koennen-viel-erreichen-5332374, Letzter Zugriff: 02.02.2022.
[12] Neues Deutschland (2021), Atomare Abrüstung: Baerbock strebt bombensichere Abrüstung an, https://www.nd-aktuell.de/artikel/1159594.atomare-abruestung-baerbock-strebt-bombensichere-abruestung-an.html, Letzter Zugriff: 02.02.2022.