Das globale Netzwerk für eine atomwaffenfreie Welt
Die Geschichte der International Campaign to Abolish Nuclear weapons (ICAN) reicht heute zehn Jahre zurück. Es war ursprünglich ein malaysischer Arzt und Präsident der Internationalen Ärzte für die Verhütung des Atomkriegs (IPPNW), Dr. Ron McCoy, der die Idee hatte, eine internationale Kampagne für die Abschaffung von Atomwaffen aufzubauen. McCoy hatte in seinem Arbeitsleben als Geburtshelfer bereits Tausende von Babys zur Welt gebracht, nun auch eine Kampagne. Sie sollte sich am Vorbild der Internationalen Kampagne gegen Landminen (ICBL) orientieren, deren Strategie es war, sich auf die humanitären Auswirkungen dieser Waffen zu konzentrieren und darauf aufmerksam zu machen, dass sie mit dem humanitären Völkerrecht nicht vereinbar sind. Die Kampagne erhielt 1997 nach Abschluss des Verbotsvertrages den Friedensnobelpreis.
Die Atomwaffen-Kampagne ICAN wurde 2007 in Melbourne aus der Taufe gehoben. Zwei australische Ärzte der IPPNW, Bill Williams und Tilman Ruff (bekannt als Bill und Till), reisten um die Welt, um Unterstützer für die Kampagne zu gewinnen. Während Tilman vor allem in Asien sachlich die humanitären Folgen vortrug, zog Bill ein Kängurukostüm an und spielte „ICANgaroo“, um die Menschen zu inspirieren, mitzumachen.
In den Folgejahren wuchs ICAN stetig und gewann viel Zuspruch, darunter vor allem von humanitären Organisationen wie dem Internationalen Komitee des Roten Kreuzes. ICAN entwickelte zunehmend eine eigene Struktur und löste sich immer mehr von der IPPNW ab. Viele Jahre war Tilman Ruff der Vorsitzende und leitete mit Rebecca Johnson (Acronym Institute) und Akira Kawasaki (Peace Boat) die Kampagne. Neben dem Büro in Melbourne eröffneten sie ein zweites Büro in Europa. Mit diesem Standort in Genf wollten sie näher an die abrüstungspolitischen Institutionen der Vereinten Nationen heranrücken. Das Büro wurde zunächst von Arielle Denis geleitet. 2014 wurde ein internationaler Kampagnenrat gegründet, bestehend aus Vertretern der Partnerorganisationen (International Steering Group), unter anderem Reaching Critical Will, Article 36 und PAX. Die Geschäftsführung sowie die politische und öffentliche Vertretung der Kampagne ging an Beatrice Fihn über.
ICAN hat sich in seinem Ansatz und Erscheinungsbild ein Stück weit von der alten Friedensbewegung gelöst und einen Neuanfang in der Kampagnenarbeit zu Atomwaffen gewagt. Als moderne und dynamische Kampagne suchte ICAN vor allem die Unterstützung der jungen Generation. Die alte Idee einer Nuklearwaffenkonvention, an der unbedingt auch die Atomwaffenstaaten beteiligt sein müssten, wurde als gescheitert verworfen. Seit 1995 hatte das internationale Netzwerk „Abolition 2000“ vergeblich versucht, die Atomwaffenstaaten an den Verhandlungstisch zu bewegen.
Die neue Idee: Ähnlich wie in den Landminen- und Streumunitionskampagnen sollten zunächst diejenigen Staaten einen Vertrag aushandeln, die von den Folgen betroffen sind. In einem zweiten Schritt erzeugt die Ächtung dann den Druck auf die Besitzerstaaten, mit dem Prozess der Abrüstung zu beginnen. Die völkerrechtliche Norm sollte der Abrüstung vorangestellt werden und sie antreiben, anstatt die Verwirklichung einer atomwaffenfreien Welt weiter der Laune der Atomwaffenstaaten zu überlassen.
Daher war die erste Aufgabe, eine kritische Masse von Staaten möglichst aus allen Erdteilen zusammenzubringen. Insbesondere in den Ländern des globalen Südens waren Organisationen, die sich für humanitäre Abrüstung einsetzen, aufgrund der positiven Erfahrungen der Landminen- und Streumunitionskampagne sehr gut vernetzt. Es dauerte nicht lange, bis ICAN eigene CampaignerInnen in Afrika und Lateinamerika hatte. Der Südpazifik und Südasien waren ebenfalls gut aufgestellt. Die Kampagne fokussierte sich auf atomwaffenfreie Staaten und nutzte regionale Gruppierungen, insbesondere die bereits bestehenden atomwaffenfreien Zonen. Aber auch in Europa bekam ICAN in einigen Staaten große Unterstützung. Vor allem in Norwegen, Österreich und Irland schlossen sich neben den zivilgesellschaftlichen Akteuren auch die Regierungen der Initiative zu einem Atomwaffenverbot an. Langsam entstand weltweit eine Kerngruppe von Staaten, die offen für eine Ächtung von Atomwaffen eintrat und als „Humanitäre Initiative“ bekannt wurde.
Es begann eine neue Ausrichtung der Debatte um nukleare Abrüstung: Statt über die sogenannte Sicherheitsdimension (nukleare Abschreckung und nationale Sicherheit) zu diskutieren, stand zunehmend die menschliche Sicherheit im Mittelpunkt und die katastrophalen Auswirkungen der schlimmsten Massenvernichtungswaffen auf Mensch und Umwelt.
ICAN war als Koordinatorin der Zivilgesellschaft bei allen UN-Beratungen zur Ächtung von Atomwaffen präsent und unterstützte die drei Staatenkonferenzen zu den humanitären Folgen von Atomwaffen in 2013 (im März in Oslo) und 2014 (im März in Nayarit, im Dezember in Wien). ICAN half Norwegen, Mexiko und Österreich, ExpertInnen für die Staatenkonferenzen zu identifizieren und anzusprechen, die wissenschaftliche Informationen über die Folgen von Atomwaffen bereitstellen konnten. Die Kampagne arbeitete hierbei eng mit verschiedenen Organisationen aus den Bereichen Humanitäre Hilfe, Menschenrechte, Entwicklung, Frieden und Umwelt zusammen und bezog inbesondere die Atombombenopfer aus Hiroshima und Nagasaki (Hibakusha) intensiv in die politische Arbeit ein.
Nach der Staatenkonferenz im Dezember 2014, bei der Österreich eine Selbstverpflichtung zum Verbot von Atomwaffen („Humanitarian Pledge“) vorstellte, forderte ICAN alle Staaten in persönlichen Gesprächen auf, die Erklärung zu unterzeichnen. Die Arbeit hat sich ausgezahlt. 127 Staaten unterstützten schließlich die Erklärung und die darin eingebettete Forderung nach einer neuen völkerrechtlichen Norm.
Es folgte 2015 eine Resolution in der UN-Vollversammlung zur Einrichtung einer Offenen Arbeitsgruppe (OEWG) zur nuklearen Abrüstung. Auch hier war das internationale Netzwerk von ICAN-CampaignerInnen aktiv und trug entscheidend dazu bei, eine übergroße Mehrheit für die Unterstützung der Resolution zu gewinnen. Die UN-Arbeitsgruppe nahm im Februar 2016 ihre Arbeit auf und endete im August 2016 mit einer Kampfabstimmung über die Frage der Ächtung, bei der die atomwaffenfreien Staaten die teilnehmenden Alliierten der Atomwaffenstaaten überstimmten. Nach der verlorenen Abstimmung boykottierten die NATO und andere US-Alliierte nahezu geschlossen gemeinsam mit den Atomwaffenstaaten den Ächtungsprozess.
Die Arbeit in Ländern wie Deutschland, Australien oder Japan war für die Kampagne jedoch genauso wichtig wie in den Ländern des Globalen Südens. Natürlich haben die Atomwaffenstaaten kein Interesse daran, Atomwaffen zu verbieten. Aber in den alliierten Ländern sieht es anders aus. Diese Regierungen treten offiziell für nukleare Abrüstung ein und fordern eine atomwaffenfreie Welt, setzen aber selbst auf die erweiterte nukleare Abschreckung und wollen deshalb die Ächtung von Atomwaffen verhindern. ICAN hat deshalb diese Doppelmoral in die öffentliche Aufmerksam in diesen Ländern gerückt und kritisiert.
Der Durchbruch erfolgte bei der Abstimmung in der UN-Vollversammlung im Oktober 2016. Trotz massiven Drucks durch die Atomwaffenstaaten und ihre Alliierten, beschlossen die Vereinten Nationen, für das Jahr 2017 eine Konferenz zur Verhandlung eines Atomwaffenverbots einzuberufen.
ICAN verfolgte während der Verhandlungen zwei zentrale Ziele. Zum einen wollte die Kampagne einen fundierten inhaltlichen Input zum Vertragstext liefern, damit dieser den jüngsten Standards in der humanitären Abrüstung entspricht und den Opfern der Atomwaffeneinsätze und -tests gerecht wird. Zum anderen ging es darum, die Weltöffentlichkeit auf diese einzigartige Chance, auf dieses politische Wunder des Widerstands gegen die ultimative Gewaltandrohung, aufmerksam zu machen. Letzteres war eine große Herausforderung, da die meisten Medien sich nicht mit dem Thema befassen wollten. Während Zweidrittel der Staatengemeinschaft im Juli 2017 das Atomwaffenverbot annahmen, richteten sich die Kameras nahezu ausschließlich auf den weitgehend ergebnislosen G20-Gipfel mit seinen Ausschreitungen in Hamburg.
Nun liegt der Vertrag zum Verbot von Atomwaffen vor. Am 20. September 2017 wurde er zu Unterschrift freigegeben und noch am selben Tag von mehr als 50 Staaten unterzeichnet. Jetzt gilt es, weitere Unterschriften zu sammeln und für eine zügige Ratifizierung zu werben. Auch nach Inkrafttreten des Vertrages wird die Arbeit für ICAN nicht aufhören. Denn der Verbotsvertrag ist nur der erste Schritt in Richtung Abschaffung von Atomwaffen. Mit ihm haben wir aber ein Instrument gewonnen, um Staaten wie Deutschland daran zu erinnern, dass Atomwaffen von der Menschheit weitgehend abgelehnt werden. Er kann helfen, die erweiterte Abschreckung innerhalb der NATO zu begrenzen und den Abzug der US-Atomwaffen in Deutschland durchzusetzen.
Für die Bemühungen um ein völkerrechtliches Verbot von Atomwaffen wurde ICAN 2017 mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet. In der Begründung des Nobelpreiskommittes heißt es: „Die Organisation erhält die Auszeichnung für ihre Arbeit, Aufmerksamkeit auf die katastrophalen humanitären Konsequenzen jeglichen Einsatzes von Atomwaffen zu lenken und für ihre bahnbrechenden Bemühungen um ein vertragliches Verbot solcher Waffen.“
Stand: 08.10.2017