Hundert Jahre nach Ende des Ersten Weltkriegs mahnt Martin Hinrichs von ICAN Deutschland: Giftgas wurde international geächtet, das muss jetzt auch mit Atomwaffen geschehen.
Am 11. November 2018 jährt sich der Tag des Waffenstillstandsvertrags von Compiègne und damit das Ende des Ersten Weltkriegs zum hundertsten Mal. Bei einer Gedenkveranstaltung in München hat Martin Hinrichs aus dem Vorstand von ICAN Deutschland eine Rede gehalten. Was können wir aus dem Ersten Weltkrieg lernen? Wie hat sich internationales Recht weiterentwickelt? Was muss heute passieren?
Seine Rede im Wortlaut:
Liebe Mitbürgerinnen, liebe Mitbürger,
mein Urgroßvater Karl Becker lebte eine Zeit lang in München. Er zog freiwillig in den Ersten Weltkrieg. In den Briefen, die er von der Front schrieb, hielt er bis zuletzt an seiner Überzeugung fest, es sei heldenhaft, für das Vaterland in den Krieg zu ziehen.
Karl Becker fiel im Jahr 1917 bei Ypern in Flandern. Er ließ seine Frau mit vier kleinen Kindern zurück. Seinen jüngsten Sohn, meinen Großvater, Dankwart Becker, hat er nie gesehen.
Der erste Weltkrieg beendete die Illusion vom Heldentum im Krieg. Es ist nicht heldenhaft, von Artillerie und Maschinengewehren zerstückelt zu werden. Für die Perversion des technischen Fortschritts im Ersten Weltkrieg steht wenig so wie das Giftgas.
Während der ersten Giftgasangriffe durch die Deutschen, erlebten die Soldaten der Alliierten das pure Grauen. Sie waren dieser neuen Waffe schutzlos ausgeliefert. Wer überlebte, trug ein Leben lang die Bilder der grässlichen Qualen mit sich. unter denen die Opfer zugrunde gingen. Giftgas markierte einen neuen Höhepunkt der mechanisierten Vernichtung. Diese Waffe wurde in großem Stil eingesetzt. 100.000 Soldaten starben im ersten Weltkrieg an Giftgas, mehr als eine Million wurden verwundet.
In der Vergangenheit wurden gefallene Soldaten als Helden verehrt. Wenn wir heute an die Opfer der beiden Weltkriege denken, dann nicht mit Verehrung, sondern mit Trauer. Nie wieder – das haben wir uns zum Ziel gesetzt. Darauf gründet sich heute unsere Nation: Nie wieder Krieg. Nie mehr Faschismus. Nie wieder Völkermord.
Dieser Weg war schwierig. Er war nicht gerade. Der Versuch, in Deutschland 1918 eine Demokratie aufzubauen, scheiterte 1933. Und doch baut unsere Demokratie heute auch auf den Errungenschaften der Weimarer Republik auf.
Die Hoffnung, mit dem Völkerbund ein neues internationales System zu schaffen, in dem Staaten ihre Differenzen friedlich beilegen, ging mit dem Ausbruch des zweiten Weltkriegs verloren. Heute aber sind wir diesem Ideal näher. Der Einsatz von Giftgas durch die deutsche oder britische Armee wäre heute undenkbar. So undenkbar wie ein Krieg in Westeuropa.
Die Institutionen, denen wir das verdanken, sind uns selbstverständlich geworden. Gerade deshalb riskieren wir, ihren Wert zu vergessen. Wenn der Krieg undenkbar wird, wird er wieder möglich.
Sollen unsere Ideale überleben, so dürfen sie nicht bloß unreflektierte Tabus sein. Wir müssen sie begründen. Wir müssen sie uns im demokratischen Streit aneignen. Und wir müssen versuchen, ihre Kohärenz zu stärken. Denn das Recht ist das Gegenteil zur Willkür.
Darum bin ich Mitglied der Internationalen Kampagne zur Abschaffung von Atomwaffen – ICAN. Wir kämpfen dafür, eine klaffende Lücke im internationalen Recht zu schließen: die Sonderstellung von Atomwaffen. Unser Vorbild ist die erfolgreiche Ächtung von Giftgas.
1925, sieben Jahre nach dem Ersten Weltkrieg, wurde der Einsatz von Giftgas durch einen internationalen Vertrag verboten. Selbst im Zweiten Weltkrieg, der neue Maßstäbe menschlicher Grausamkeit setzte, wurde Giftgas nicht mehr, wie im Ersten Weltkrieg, auf den Schlachtfeldern Europas eingesetzt. Waffenarsenale, die Millionen Menschen hätten töten können, sind heute vernichtet worden. Verletzt ein Staat diese Norm, bedeutet das seinen Ausschluss aus der internationalen Gemeinschaft. Kein Staat brüstet sich heute mit dem Besitz von Giftgas.
Bei Atomwaffen ist es anders. Da ist die Rede noch vom „nuklearen Klub“, vom besonderen Status, den diese Massenvernichtungswaffe verleihe. Diese Sonderstellung wird von den nuklear bewaffneten Staaten erbittert verteidigt. Ein Beispiel:
In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die Staatengemeinschaft erneut, Regeln zu schaffen, die Kriegsverbrechen verhindern. Ein Zusatzprotokoll zu den Genfer Konventionen sollte unter anderem klarstellen, dass das flächendeckende Bombardement der Zivilbevölkerung ein Kriegsverbrechen ist. Die Atomwaffenstaaten waren einverstanden, aber sie stellten eine Bedingung: dass der Einsatz von Atomwaffen von dieser Regel ausgenommen werden soll. Massenmord an Zivilisten sollte ein Verbrechen sein – es sei denn, er geschieht mit Atomwaffen.
Biologische Waffen, chemische Waffen, Streubomben und Landminen: diese Waffen töten grausam und unterschiedslos, sie bedrohen vor allem die Zivilbevölkerung, und deshalb gibt es gegen sie wirksame internationale Verbote. Atomwaffen erfüllen die gleichen Kriterien – aber für sie gab es bis 2017 keinen globalen Vertrag, der sie eindeutig ächtet.
Jetzt ist es ICAN gelungen, diese Ausnahme zu beenden. Für die Verhandlung des UN-Vertrags über das Verbot von Atomwaffen hat unsere Organisation den Friedensnobelpreis gewonnen. Aber Deutschland – wir, die wir uns geschworen haben: Nie wieder! Und wir meinten auch: Nie wieder Hiroshima! – unsere Regierung boykottiert diesen Vertrag. Deutschland will die Legitimität nuklearer Massenvernichtungswaffen nicht in Frage stellen. Die Drohung mit dem Einsatz von Atomwaffen im Rahmen der NATO sei für unsere Sicherheit unverzichtbar, so die Bundesregierung. Die Militärstrategen in Verteidigungsministerium und Kanzleramt wollen, dass weiter amerikanische Atomwaffen in Deutschland stationiert bleiben, dass weiter deutsche Piloten ihren Abwurf üben.
Sie wissen, dass die Bevölkerung anderer Meinung ist. Deshalb kleiden sie ihre Politik in wolkige Umschreibungen, deshalb führen Sie die Übungen für den Ernstfall im Geheimen durch. Die Technokraten glauben, dass sich Krieg mit einem Pokerspiel verhindern lässt. Dass es für Frieden keine Ideale braucht, sondern die Drohung mit totaler Vernichtung. Sie sagen: Abschreckung ist bombensicher. Sie irren. Wir standen schon zu oft am Abgrund, als dass wir uns darauf verlassen dürften!
Wir werden neue Kriege nicht verhindern können, wenn wir nicht von der Falschheit des Krieges überzeugt sind. Wenn wir glauben, Politik zwischen Staaten entziehe sich Recht und Gewissen, wird unsere Politik recht- und gewissenlos sein.
Wir wissen, dass es einen anderen Weg gibt. Wir können Atomwaffen ächten, wie wir chemische und biologische Waffen geächtet haben. Wir können die Unmenschlichkeit des Krieges begrenzen. Aber dazu müssen wir uns dem Leid der Vergangenheit stellen. Und wenn wir heute sehen, dass neues Leid vorbereitet wird: dann müssen wir Widerstand leisten und Nein sagen.