Warum nukleare Drohungen verurteilen?

Damit der Einsatz von Atomwaffen auch künftig keine Option in kriegerischen Auseinandersetzungen ist, muss die internationale Gemeinschaft konsequent und kategorisch jegliche Drohung mit diesen Massenvernichtungswaffen verurteilen. Denn das “nukleare Tabu” wird gerade auf historisch einmalige Weise auf die Probe gestellt. Expert*innen erwarten bereits, dass Atomwaffen und nukleare Drohungen in künftigen internationalen Krisen eine größere Rolle spielen könnten. Die internationale Staatengemeinschaft und Regierungen können und müssen deshalb jetzt darauf hinwirken, dass der Einsatz von Atomwaffen undenkbar bleibt.  

Seit Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs auf die Ukraine im Februar 2022 spielt die russische Führung und Präsident Putin immer wieder mehr oder weniger unverhohlen auf das Atomwaffenarsenal des Landes an. In einer Ansprache im September 2022 sagt Putin „Im Falle einer Bedrohung der territorialen Integrität unseres Landes und zur Verteidigung Russlands und unseres Volkes“ ist die russische Führung dazu bereit “alle zur Verfügung stehenden Waffen zu nutzen” und betont “Das ist kein Bluff”. Diese Rhetorik schwächt das nukleare Tabu und senkt die Schwelle für den tatsächlichen Einsatz von Atomwaffen. Auch die generisch folgenden medialen Spekulationen zu möglichen Einsatzszenarien und militärischen Auswirkungen rütteln am “nuklearen Taboo”. Denn diese öffentlichen Diskussionen machen einen tatsächlichen Einsatz greifbarer und in den Köpfen der Menschen zu einer realen Option. Ein Atomwaffeneinsatz sollte aber undenkbar bleiben. Denn es gibt keine Möglichkeit, humanitär und medizinisch angemessen auf einen solchen Einsatz zu reagieren.

Drohungen mit Atomwaffen müssen scharf verurteilt werden

Die einzige Möglichkeit die aktuelle Phase der Fragilität des nuklearen Tabus einzugrenzen besteht in einer eindeutigen und scharfen Ablehnung der russischen Drohungen auf verschiedenen Ebenen und durch diverse Akteur*innen. Diese Ablehnung muss durch zivilgesellschaftliche und humanitäre Organisationen auf Ebene von Städten, Ländern und internationalen Organisationen erfolgen. Denn die Auswirkungen der nuklearen Drohungen betreffen schon jetzt jeden einzelnen von uns: Neben den bestehenden Zukunfts- und Versorgungsängsten schürt die Drohung mit Atomwaffen existenzielle Verunsicherung. Laut einer aktuellen Civey-Umfrage im Auftrag des Spiegel sind 51 Prozent der Bevölkerung besorgt, dass es 2022 zu einem Atomkrieg kommen könnte. Dies kann zu einem Demokratieproblem werden, denn eine verunsicherte Bevölkerung ist u.a. anfälliger für rechtspopulistische Strömungen

Die Auswirkungen eines tatsächlichen Atomwaffeneinsatzes gegen die Bevölkerung von Städten kann von keiner humanitären Organisation, von keiner städtischen oder staatlichen Infrastruktur kompensiert werden. Deshalb müssen Drohungen mit Atomwaffen konkret und aus aktuellem Anlass verurteilt werden. Mittelfristig müssen sich aber auch diverse Akteur*innen gegen die kontinuierlichen Praktiken der nuklearen Abschreckung, wie zum Beispiel Manöverübungen zum Einsatz mit Atomwaffen und Investitionen in die Modernisierung und Instandhaltung aussprechen. Denn die verbalen Drohungen, mit denen Russland aktuell die internationale Gemeinschaft konfrontiert, sind nur eine fortgeschrittene Eskalation der nuklearen Abschreckung und sollten nicht als politisches Spiel unterschätzt werden. Eine überzeugende und umfassende Ablehnung durch Regierungen, Internationale und zivilgesellschaftliche Organisationen könnte nicht nur die Drohung selbst delegitimieren, sondern gleichzeitig auch das “nukleare Tabu” stärken. 

Delegitimierung ist wirksam

Jeder Staat, auch die Atomwaffenstaaten und ihre aktuelle politische Führung, legen Wert auf Legitimität und Reputation in der internationalen Gemeinschaft. Der Verlust der Legitimität kann sich auf die internationale politische Unterstützung auswirken – in schwerwiegenden Fällen kann es zu Isolation, Ächtung, Sanktionen und erheblichen wirtschaftlichen Folgen gegen einen Staat führen. 

Bei der Verfolgung ihrer nationalen Ziele – wie egoistisch, zynisch oder aggressiv sie auch sein mögen – bemühen sich alle Atomwaffenstaaten deshalb ernsthaft, ihre Handlungen vor dem Völkerrecht und zumindest gegenüber der eigenen Bevölkerung zu rechtfertigen. Ihre Atomwaffenpolitik soll als gängige, akzeptierte Praxis dargestellt werden. So behaupten beispielsweise alle fünf Atomwaffenstaaten des nuklearen Nichtverbreitungsvertrag (NVV), die Abrüstungsverpflichtungen im Artikel VI des Vertrags zu erfüllen und das humanitäre Völkerrecht einzuhalten. Sowohl Russland als auch die USA haben in der UN-Vollversammlung jüngst versucht, möglichst viel Unterstützung für ihre jeweiligen Resolutionen zur Bewertung des Kriegs in der Ukraine zu sammeln. Auch andere Länder versuchen, ihr Festhalten an Massenvernichtungswaffen innenpolitisch zu rechtfertigen. So begründet die Regierung Großbritanniens den Ausbau des Arsenals mit der verschlechterten Sicherheitslage und technologischen Entwicklungen. Auch die deutsche Bundesregierung stellt die nukleare Teilhabe in der NATO als legitim  dar. “Solange nukleare Waffen ein Mittel militärischer Auseinandersetzungen sein können, besteht nach Überzeugung der Bundesregierung die Notwendigkeit zur nuklearen Abschreckung fort”,  heißt es auf der Webseite des Bundesministeriums für Verteidigung.  Diese Beispiele zeigen welchen Wert Staaten auf die Legitimität ihrer Strategien legen.   

Reaktionen auf Kritik an Atomwaffenpolitik

Russland versuchte die verbreitete Kritik an seinen nuklearen Drohungen gegenüber der Ukraine von sich zu weisen. Deshalb hat die russische Führung auch immer wieder betont, dass sie nur entlang der bestehenden Atomwaffendoktrin handelt. Diese betont, dass Atomwaffen nur eingesetzt werden, wenn die Existenz des Staates auf dem Spiel stehen würde. Gleichzeitig bleiben die russischen Verlautbarungen widersprüchlich. Denn Präsident Putin versucht auch, einen Atomwaffeneinsatz mit Verweis auf die „Präzedenzfälle” der US-Atombombenabwürfe auf Hiroshima und Nagasaki zu legitimieren. Doch diese Ereignisse sind historisch singulär und keine anerkannte internationale Praxis. Dabei negiert Putin ebenfalls das in den folgenden Jahrzehnten etablierte nukleare Tabu. Er missachtet auch die erst im Januar 2022 von den fünf Atomwaffenstaaten des UN-Sicherheitsrates verabschiedete und von ihm selbst zu Beginn der UN-Vollversammlung wiederholte Erklärung, „dass ein Atomkrieg nicht gewonnen werden und niemals geführt werden kann“. Außerdem reagierte Russland ausführlich mit einem öffentlichen Statement auf die im Juni verabschiedete politische Erklärung der Staaten des Atomwaffenverbotsvertrags. Die politische Erklärung verurteilt, ohne Russland explizit zu nennen, unmissverständlich „jegliche nukleare Bedrohung“.

Auch andere Atomwaffenstaaten reagieren empfindlich auf Äußerungen, die zu einem Verlust an Legitimität und internationaler Unterstützung führen könnten. Die USA und die NATO bezeichnen die Drohungen Russlands als “unverantwortlich”, “inakzeptabel” oder “waghalsig”. Damit versuchen sie einen Unterschied zwischen “verantwortlichen” und “unverantwortlichen” Drohungen zu postulieren und sich selbst in der ersten Kategorie zu platzieren. Es gibt aber keine “richtige Regierung” für die falschen Waffen und wie die Präsidenten in den USA gezeigt haben, kann ein personeller Wechsel schnell zu einer verschärften nuklearen Rhetorik und veränderter internationalen Nuklearpolitik führen. 

Delegitimierung und nukleare Abschreckung

Ein Großteil des bisherigen Widerstands der Atomwaffenstaaten gegen den 2017 verabschiedeten AVV beruhte auf der Befürchtung, dass der Vertrag eine Delegitimierung von Atomwaffen und nuklearer Abschreckung bewirkt. Ähnliche Delegitimierungsprozesse waren in Bezug andere Massenvernichtungswaffen wie Bio- und Chemiewaffen sowie Landminen und Streumunition bereits erfolgreich. Die USA warnten ihre NATO-Verbündeten deshalb im Jahr 2016 davor, die Aushandlung eines Verbotsvertrags zu unterstützen. Das begründeten sie mit dem Ziel des Vertrages, „das Konzept der nuklearen Abschreckung zu delegitimieren, auf das viele Verbündete und Partner der USA angewiesen sind“. In einer Erklärung der NATO, die kurz vor dem Inkrafttreten des AVV im Januar 2021 veröffentlicht wurde, heißt es, dass die NATO-Mitglieder „jeden Versuch der Delegitimierung der nuklearen Abschreckung ablehnen“.

Delegitimierung funktioniert über staatliche und nichtstaatliche Kanäle. Deshalb war der Prozess zur Vorbereitung und Verabschiedung des AVV wichtig und hat das nukleare Tabu bereits gestärkt. Es gibt zahlreiche Beispiele in denen der Druck der Verbraucher*innen und der Zivilgesellschaft auf das Verhalten von Unternehmen Einfluss genommen haben. Viele dieser Ansätze gelten auch für Atomwaffen. Da die öffentliche Stigmatisierung von Atomwaffen wächst, wird die Beteiligung von Unternehmen an der Produktion dieser Waffen finanziell immer riskanter. ICAN konnte bereits Banken, Pensionsfonds und andere Finanzinstitutionen davon überzeugen, sich von an der Herstellung und Wartung von an Atomwaffen beteiligten Unternehmen zu trennen. Das Inkrafttreten des AVV, das Atomwaffen nach internationalem Recht illegal macht – wie auch biologische und chemische Waffen, Antipersonenminen und Streumunition – hat diesen Bemühungen erheblichen Auftrieb verliehen.

Impulse zur Verurteilung von Drohungen mit Atomwaffen

Impulse für eine nachhaltige Delegitimierung von Drohungen mit Atomwaffen:

  1. Nukleare Bedrohungen betreffen alle Staaten
  •         In Anbetracht der weitreichenden und katastrophalen Auswirkungen eines Atomwaffeneinsatzes ist eine nukleare Drohung gegen ein Land eine Bedrohung gegen alle Länder.
  •         Hier geht es nicht nur um Russland und die Ukraine. Nukleare Drohungen gelten nicht nur den unmittelbar Bedrohten oder den Ländern in der Nähe. Wie der Klimawandel und Pandemien stellen Atomwaffen ein globales Risiko dar und erfordern eine globale Antwort.
  •       Daher liegt es im Interesse und in der Verantwortung aller Staaten, diese Drohungen zu verurteilen und Maßnahmen zur Stärkung der Norm gegen ihren Einsatz zu ergreifen.

 

  1. Den Fokus auf die Folgen legen:, was passiert, wenn die Drohung umgesetzt wird
  •         Jeder Atomwaffeneinsatz hätte weitreichende und katastrophale humanitäre Folgen [insbesondere in dicht besiedelten Regionen] und sollten deshalb mit Blick auf die Sicherheit der Bevölkerung und nicht nur unter geopolitischen, militär-strategischen und taktischen Gesichtspunkten diskutiert werden.
  •         Selbst sogenannte „taktische“ Atomwaffen, von denen spekuliert wird, dass Russland sie im Ukraine-Konflikt einsetzen könnte, haben in der Regel eine Sprengkraft von 10 bis 100 Kilotonnen. Im Vergleich: Die Atombombe, die 1945 Hiroshima zerstörte und 140.000 Menschen tötete hatte eine Sprengkraft von unter 15 Kilotonnen.
  •         Nach einem Atomwaffeneinsatz kann es keine wirksame humanitäre Reaktion geben. Die medizinischen und Notfallkapazitäten wären sofort überfordert. Dies würde die ohnehin schon hohe Zahl an Opfern noch steigern. 
  •         Eine weit verbreitete Panik würde Massenbewegungen von Menschen und schwere wirtschaftliche Folgen auslösen.
  •         Nach dem Einsatz einer Atomwaffen würde ein nuklearer Schlagabtausch folgen. Die Auswirkungen hätten eine globale Reichweite für Millionen von Menschen, u.a. in Form von extremen Klimaveränderungen und Ernteausfällen. 
  1. Auf das Völkerrecht und die Verpflichtungen des Staates berufen, der die Drohung ausspricht
  •         Jede Drohung mit Atomwaffeneinsätzen ist ein Verstoß gegen das Völkerrecht, einschließlich der Charta der Vereinten Nationen. Auch der AVV verbietet ausdrücklich die Androhung des Einsatzes von Atomwaffen.
  •         Jeder Atomwaffeneinsatz würde mit ziemlicher Sicherheit gegen das humanitäre Völkerrecht verstoßen, das hat der Internationale Gerichtshof 1996 festgestellt.
  •         Russlands Drohungen mit einem Atomwaffeneinsatz in der Ukraine sind unvereinbar mit der nationalen Nukleardoktrin, Russlands Verpflichtungen aus dem Budapester Memorandum, seiner Erklärung vom Januar 2022 mit den anderen NVV-Kernwaffenstaaten, dass „ein Atomkrieg nicht gewonnen werden kann und niemals geführt werden darf“ und den Verpflichtungen, die auf mehreren Überprüfungskonferenzen des NVV beschlossen wurden.
  1. Alle Drohungen mit dem Einsatz von Atomwaffen eindeutig und kategorisch verurteilen
  •         Alle Drohungen mit Atomwaffeneinsätzen sind inakzeptabel, unabhängig davon, ob sie allgemein oder spezifisch sind und unabhängig von den Umständen.
  •         Alle nuklearen Drohungen sind unverantwortlich, unabhängig davon, welches Land sie ausspricht und warum. Es gibt keine „verantwortungsvollen“ nuklearen Drohungen.
  •         Auf ihrer ersten Sitzung im Juni haben die Vertragsstaaten des AVV unmissverständlich „jegliche nuklearen Drohungen, ob explizit oder implizit und ungeachtet der Umstände“ verurteilt.
  •         Andere Staaten sollten ähnliche Verurteilungen aussprechen.