Foto: Protest zu den Koalitionsverhandlungen vor dem Bundestag, Foto: Regine Ratke

Was können wir von der neuen Bundesregierung erwarten?

Mehr Fortschritt wagen“ – mit diesem Satz betiteln die künftigen Regierungsparteien SPD, Grüne und FDP den Koalitionsvertrag für die künftigen 4 Jahre. Als „Bündnis für Freiheit, Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit“ wird das Papier weiter bezeichnet. Während im Januar 2021 der UN-Atomwaffenverbotsvertrag (AVV) in Kraft getreten ist und einen Meilenstein für die internationalen Abrüstungsbemühungen darstellt, gab es in Deutschland wenig Bemühungen die Rolle von Atomwaffen grundsätzlich in Frage zu stellen. Jegliche Vorstöße von Zivilgesellschaft oder Abgeordneten wie Rolf Mützenich bezüglich eines Umdenkens in der nuklearen Teilhabe wurden abgeschmettert. Mit großer Beachtung wurde daher international und von zivilgesellschaftlicher Seite auf den Koalitionsvertrag geblickt. Was können wir von der künftigen Bundesregierung im Bezug auf die nukleare Teilhabe erwarten? Wie viel Fortschritt wagt sie im Bereich der Außen- und Sicherheitspolitik?

Beobachtende Teilnahme an der AVV-Vertragsstaatenkonferenz

Zunächst setzt der Koalitionsvertrag ein klares Signal: So plant die künftige Bundesregierung an der Vertragsstaatenkonferenz zum AVV im März 2022 in Wien als Beobachterin teilzunehmen. Damit kündigt Deutschland als zweiter NATO-Mitgliedsstaat nach Norwegen und als erster Staat, in dem Atomwaffen stationiert sind, die beobachtende Teilnahme an und setzt damit ein wichtiges Signal in Richtung Unterstützung des AVVs. Auf der Konferenz kommen die Vertragsstaaten zusammen, um drei Tage lang über die Universalisierung und die Umsetzung des AVV sprechen. Ziel ist es eine Erklärung sowie einen Aktionsplan zu verabschieden, um die Implementierung des AVV weiter voranzutreiben. Der AVV sieht beispielsweise die Anerkennung von Opfern von Atomwaffentests- und Einsätzen vor. Außerdem verweist er auf Sicherungsmaßnahmen, um zu überprüfen, dass Staaten keine Atomwaffen besitzen, entwickeln oder testen. Er bietet einen völkerrechtlichen Rahmen für eine vollständige nukleare Abrüstung. Als beobachtender Staat kann Deutschland das Verfahren verfolgen, Stellungnahmen abgeben und Unterstützung für den Vertrag signalisieren. Außerdem kann die Ankündigung Deutschlands eine Hebelwirkung mit sich bringen und andere Staaten der nuklearen Teilhabe wie Italien, Belgien und die Niederlande motivieren ebenfalls an der Konferenz teilzunehmen. Auch wenn die Teilnahme im Koalitionsvertrag vorsichtig formuliert wird – mit Bezugnahme auf den Vertrag über die Nichtverbreitung von Kernwaffen (NVV) und auf die Absprache mit den Alliierten – so stellt sie einen wichtigen Schritt dar, der eine neue Richtung einschlägt und das Paradigma der alten Regierung durchbricht.

Abkehr von nuklearer Abschreckung?

Einige Stellen des Koalitionsvertrags bleiben vage oder widersprechen auch dem Signal zur Ächtung von Atomwaffen, dass von der Staatenkonferenz des AVV ausgeht. Dies betrifft beispielsweise die Zukunft der nuklearen Teilhabe Deutschlands. Vorweg schreiben die zukünftigen Regierungsparteien: „Unser Ziel bleibt eine atomwaffenfreie Welt (Global Zero) und damit einhergehend ein Deutschland frei von Atomwaffen.“ Weiter heißt es: „Solange Kernwaffen im strategischen Konzept der NATO eine Rolle spielen, hat Deutschland ein Interesse daran, an den strategischen Diskussionen und Planungsprozessen teilzuhaben.“ Dies lässt sich zum einen so lesen, dass Deutschland auch künftig an der nuklearen Teilhabe festhalten wird. Andererseits wäre diese Teilhabe an den strategischen Diskussionen bereits durch das Mitwirken in der nuklearen Planungsgruppe der NATO abgedeckt und erfordert nicht automatisch die Stationierung von US-Atomwaffen. Die Formulierungen des Koalitionsvertrags lassen die mittel- und langfristige Ausgestaltung oder auch ein Ende der nuklearen Teilhabe offen.  Diskussionswürdig ist auch der  nachfolgende Satz, in dem sich die Koalitionäre zu einem „glaubwürdigen Abschreckungspotential“ bekennen – insbesondere mit Blick auf die Ängste der mittel- und osteuropäischen Partnerstaaten. Zu dem Begriff „glaubwürdig“ gibt es aktuell unterschiedliche Interpretationen. Journalisten der Süddeutschen Zeitung berufen sich beispielsweise auf die Aussagen verschiedener Verhandler*innen, nach denen dies bedeutet, dass die US-Atomwaffen erstmal nicht aus Büchel abgezogen werden sollen und die nukleare Abschreckung einschließt. Dies lässt außer Acht, dass die US-Atomwaffen in Büchel laut Expert*innenmeinung kaum militärisch nutzbar und daher nicht  glaubwürdig sind. Stattdessen lässt der Begriff ohne den expliziten Hinweis auf eine nukleare Abschreckung vielmehr die Tür offen, dass eine „glaubwürdige“ Abschreckung auch durch konventionelle Waffen gegeben sein kann.

Nachfolgesystem für den Atomwaffenträger Tornado

Stark zu kritisieren ist definitiv das Vorhaben „zu Beginn der 20. Legislaturperiode ein Nachfolgesystem für das Kampfflugzeug Tornado [zu] beschaffen.“ Damit folgt die künftige Regierung dem Plan der Noch-Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, die den Kauf eines neuen Kampfflugzeugs anstieß. Weiter heißt es: „Den Beschaffungs- und Zertifizierungsprozess mit Blick auf die nukleare Teilhabe Deutschlands werden wir sachlich und gewissenhaft begleiten.“ Auch hier bleibt vage, ob die nukleare Komponente des neuen Kampfflugzeugs damit grundsätzlich zur Debatte steht, aufgeschoben wird oder inbegriffen ist. Die Anschaffung des neuen Kampfflugzeugs darf aus unserer Sicht nicht dazu führen, die nukleare Teilhabe Deutschlands auf weitere Jahrzehnte festzulegen.

Was folgt aus dem Koalitionsvertrag für uns?

Insgesamt kann der Koalitionsvertrag vor allem aufgrund der Ankündigung an der AVV-Vertragsstaatenkonferenz als Beobachterin teilzunehmen als Fortschritt bezeichnet werden. Dies ist ein Erfolg der Bemühungen der Zivilgesellschaft und der erstarkenden Stimmen der atomwaffenfreien Staaten. Auch darüber hinaus lässt der Koalitionsvertrag Spielraum für einen Paradigmenwechsel in der Außen- und Sicherheitspolitik. Unsere Aufgabe ist es nun, diesen Spielraum und das Potential zur Veränderung umfassend zu nutzen. Die künftige Regierung hat im Koalitionsvertrag wichtige Impulse festgeschrieben, wie die Bedeutung einer feministischen Außenpolitik, die Stärkung internationaler Abrüstungsinitiativen und den aktiven Dialog mit den Bürger*innen zu Herausforderungen der internationalen Politik. Es liegt nun auch an uns, den zivilgesellschaftlichen Bündnissen weiterhin diese Prozesse kritisch zu begleiten und Impulse zur Umsetzung zu geben.