Die NATO ist 70 Jahre alt geworden. Derzeit setzt das Bündnis auch auf Atomwaffen, aber das muss nicht sein. Die Staaten können umsteuern – wenn sie wollen.
Eine Analyse von Xanthe Hall, IPPNW-Abrüstungsexpertin und Vorstandsmitglied von ICAN Deutschland:
Atomwaffen werden im Gründungsvertrag der NATO (Nordatlantischer Vertrag, 1949) nicht erwähnt. Daher ist es möglich, dass NATO-Staaten unterschiedliche Positionen bzgl. Atomwaffen haben und sogar dem Vertrag zum Verbot von Atomwaffen (Treaty on the Prohibition of Nuclear Weapons, TPNW) beitreten können (Docherty, Harvard 2018).
Die Nuklearwaffenpolitik der NATO-Mitgliedsländer hat sich dementsprechend auch sehr unterschiedlich entwickelt. Dänemark, Norwegen und Spanien verbieten die Stationierung von Atomwaffen in Friedenszeiten auf ihren Territorien. Dänemark weigerte sich in den 1980er Jahren auch, Finanzmittel für die Stationierung von Atomwaffen unter dem NATO-Doppelbeschluss zu zahlen. Island und Litauen untersagen die Stationierung von Atomwaffen generell. Jedes Mitglied ist frei, die Bestimmungen in ihren Vereinbarungen mit der NATO selbst zu definieren.
Die nukleare Planungsgruppe (NPG) der NATO gibt es erst seit Ende 1966. Sie wurde gegründet, um über die politische Kontrolle der Atomwaffen im Rahmen der NATO und über Einsatzszenarien zu sprechen. Die Atomwaffen der NATO sind im Besitz der USA und Großbritanniens. An der NPG dürfen zwar alle Mitglieder teilnehmen, aber sie müssen es nicht. So ist zum Beispiel Portugal nach der Nelkenrevolution in den 1970er Jahren aus der NPG ausgeschieden.
Ein interessantes Beispiel ist auch Frankreich. Frankreich ist zwar ein europäischer Atomwaffenstaat, nimmt aber nicht an der nuklearen Planung der NATO teil. Seine Atomwaffen werden der NATO nicht zur Verfügung gestellt und sollen nur zur Verteidigung Frankreichs als letzter Maßnahme eingesetzt werden. Darüber hinaus will Frankreich nicht, dass ein anderes Land Verfügungsgewalt über seine Atomwaffen hat, Großbritannien lässt das ebenfalls nicht zu.
Ein weiteres wichtiges Gremium ist die High-Level Group, die der NPG unterstellt ist und der zwölf Mitglieder angehören. Diese Gruppe übernimmt besondere Aufgaben wie z.B. Ende 1970er Jahre die Ausarbeitung der Grundlagen für den NATO-Doppelbeschluss, 1981 die Analyse der Bedrohung der NATO und die Vorbereitungen für Verhandlungen des INF-Vertrages.
Sollte ein Land entscheiden, sich nicht mehr an den nuklearen Aktivitäten der NATO wie der nuklearen Planung oder der nuklearen Teilhabe zu beteiligen, können sie auch dem Atomwaffenverbotsvertrag beitreten.
Diese Frage ist wichtig für die zukünftige Nuklearpolitik von fünf Ländern. Denn nur diese fünf NATO-Mitglieder beteiligen sich an der praktischen Teilhabe und stellen Territorien, Personal und Trägersysteme zur Verfügung: Deutschland, Belgien, Niederlande, Italien und die Türkei (wobei letztere inzwischen nur Territorium zur Verfügung stellt).
Es ist möglich, aus der nuklearen Teilhabe der NATO auszusteigen und trotzdem ein vertrauenswürdiges NATO-Mitglied zu bleiben. Beispiele für dieses Vorgehen sind Griechenland (2000) und Kanada (1984). Großbritannien war auch an der nuklearen Teilhabe der US-Atomwaffen beteiligt und seit 2008 nicht mehr.
Die Atomwaffenpolitik der NATO wird in politischen Erklärungen über die Strategie festgelegt. Diese sind nur politisch und nicht rechtlich bindend. Die Flexibilität der NATO ist eines ihrer geschätzten Charakteristika. So wurde auch die Rolle der Atomwaffen in der Strategie immer wieder verändert, z.B. im Strategischen Konzept 2010 und in der Überprüfung des Abschreckungs- und Verteidigungsdispositivs 2012.
Auf der NATO-Webseite steht (in englisch, französisch, russisch und ukrainisch!), dass Atomwaffen, neben konventionellen Streitkräften und der Raketenabwehr, eine Kernkomponente der Gesamtstreitkräfte der NATO zur Abschreckung und zur Verteidigung darstellen. Gleichzeitig soll sich die NATO für nukleare Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung (ADN) engagieren.
Dieser Deal wurde von den Mitgliedern als „Paket“ verstanden: Die Rolle der atomaren Abschreckung kann wieder gesteigert werden, wenn ADN gleichzeitig ernsthaft verfolgt wird.
Allerdings schreibt die NATO auf ihrer Webseite auch den Satz, den die damalige US-Außenministerin Hillary Clinton 2010 in Tallinn gegenüber Deutschland, Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Norwegen gesagt hat und der seitdem ein NATO-Mantra geworden ist: „Solange Atomwaffen existieren, wird die NATO eine nukleare Allianz bleiben“. Dies war die Antwort auf dem Versuch des damaligen deutschen Außenministers Guido Westerwelle, US-Atomwaffen aus Europa abziehen zu lassen.
Die NATO ist also von den USA als „nukleare Allianz“ definiert worden. Vorher war sie ein Verteidigungsbündnis mit Zugriff auf Atomwaffen zweier Mitglieder als letzter Option. Ab dem Gipfel in Brüssel 2018 stehen die Mitglieder geschlossen hinter diesem Satz – und damit dem Konzept der nuklearen Allianz.
Der obige Satz ist eine Zwickmühle, er ist in sich widersprüchlich. Denn es heißt auch: „Solange die NATO eine nukleare Allianz bleibt, werden Atomwaffen weiterhin existieren.“ Nirgendwo ist offensichtlicher, dass die NATO selbst Teil des Problems ist.
15 Mitglieder bestätigten sogar die Ersteinsatzpolitik mit der Aussage „Wenn die fundamentale Sicherheit eines der Mitglieder bedroht ist, hat die NATO die Kapazität und die Entschlossenheit, für einen Gegner unakzeptable Folgen zu verursachen, die weit den Gewinn überwiegen würden, den der Gegner erhoffen kann.“ (Bell, FIIA 2018)
Seit der Annexion der Krim durch Russland haben NATO-Mitglieder vereinbart, politisch eine geschlossene Front zu bilden. Aber Donald Trumps Äußerungen über die NATO (Obsolet? Zu teuer und unfair für die USA?) führen dazu, dass diese Front nicht lange halten kann.
Gleichzeitig ist es für viele NATO-Mitglieder (besonders Deutschland) wichtig, dass die Fragen nuklearer Abrüstung und Rüstungskontrolle von der NATO verfolgt werden und nicht nur als bloße Lippenbekenntnisse gesehen werden. Die Debatte im UN-Sicherheitsrat unter deutschem Vorsitz zeugt von diesem Willen.
Der sukzessive Abbau der Rüstungskontrolle, mit der neuen Nuclear Posture Review der USA und zuletzt mit der US-Kündigung des INF-Vertrages, erhöht die Spannungen in der NATO. Auch die Zukunft des START-Prozesses, ein fundamentaler Baustein der deutschen Abrüstungspolitik, steht 2021 auf dem Prüfstand.
Welche Wege gibt es für eine Neuausrichtung?
Es gibt viele, die meinen, die NATO sei ein Relikt aus dem Kalten Krieg und solle abgeschafft werden. Wer die Erklärung des Außenministers zum 70. Jahrestag der NATO gelesen hat, wird verstehen, dass wir von einer Abschaffung der NATO noch weit entfernt sind.
Die Abschaffung der Atomwaffen ist eine Schlüsselentscheidung, die zum Paradigmenwechsel führen kann. Wenn wir entscheiden, die nukleare Abschreckung als inhumanes politisches und militärisches Mittel abzulehnen, dann werden wir anfangen, auch über die Abschreckung mit konventionellen Mitteln zu reden. Viele Staaten tun zur Zeit genau dies – nämlich durch ihren Beitritt zum TPNW.
Die Verhandlungen, die notwendig sind, um abzurüsten, brauchen neue Kooperationen, Dialog und Vertrauensbildung auch durch Überprüfung. Prinzipiell unterstützen die NATO-Mitglieder diesen Grundsatz.
Aber wie der Widerspruch im Satz „Solange Atomwaffen existieren…“ zeigt, blockiert auch das Festhalten an der nuklearen Abschreckung einen Fortschritt in Vertrauensbildung und Abrüstung. Die Schaffung einer gemeinsamen Sicherheit kann nicht erreicht werden, während Russland und die NATO mit Atomwaffen aufeinander zielen.
Es braucht eine Vereinbarung wenigstens einiger Mitglieder, den Sinn der nuklearen Teilhabe erneut in Frage zu stellen. 2010 gab es mit dem Vorstoß Deutschlands zusammen mit Belgien, den Niederlanden, Luxemburg und Norwegen einen guten Ansatz. Jetzt, wo der INF-Vertrag im August beendet wird, und die Stationierung neuer Atomwaffen in Europa auf beiden Seiten quasi vorprogrammiert ist, muss in der NATO dringend über neue Rüstungskontrolle geredet werden. Dazu fehlt aber der Mut.
Eine Idee wäre, dass die EU aktiv für die Rüstungskontrolle eintritt und Verhandlungen mit Russland und den USA über einen neuen Vertrag anbietet, der Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa (inkl. Russland bis zum Ural) verbietet. Im Zuge dieser Verhandlungen, könnte erneut über die US-Atomwaffen in Europa diskutiert werden. Eine weitere Möglichkeit wäre erneut über eine atomwaffenfreie Zone im Mitteleuropa zu diskutieren. Dies wäre eine Möglichkeit, um die Situation zu entspannen.
Diese Ideen würden es ermöglichen, dass in der NATO die Rolle von Rüstungskontrolle, Abrüstung und Nichtverbreitung gesteigert und die Rolle der Atomwaffen zunächst vermindert werden kann.
Natürlich wäre es auch hilfreich, wenn die Teilhabe-Staaten von sich aus aussteigen würden. Das bleibt auch weiterhin die Forderung der Zivilgesellschaft. Die Aktionen am US-Atomwaffenstandort in Büchel sind elementar für den Druck, den Entscheidungsträger*innen brauchen, um ihre Politik zu ändern. Jetzt kommt die Unterstützung aus den Bundesländern für ein Atomwaffenverbot und den Städten (zehn sind schon dabei) hinzu.